Venezianische Hitze 2 -100 Wörter Venezianisch

Herr Ortheil?! – Hören Sie mich? Was machen Sie da im Schatten? – Ich horche und lausche. – Und auf was? – Auf venezianische Wörter, auf Wörter im venezianischen Dialekt. Sie schwirren zwischen den Rii, in den stillen Dunkelzonen, umher, dringen aus den geöffneten Fenstern und vermehren sich heimlich, sie haben etwas Ansteckendes. Die Einheimischen halten an ihnen fest und verständigen sich damit untereinander. Carlo Goldoni, der venezianische Hausdichter, hat das Venezianische den „weichsten und angenehmsten von allen italienischen Dialekten“ genannt: „Die Aussprache ist klar, fein, leicht.“ Und er hat recht, das Venezianische ist das schönste Italienisch überhaupt. – Notieren Sie venezianische Wörter? – Ja, das auch, aber vor allem lese ich gerade in dem wunderbaren Buch von Danilo Reato (100 Wörter Venezianisch, übersetzt von Ursula Sharma, Edition Bonn-Venedig 2021). – Was ist daran so wunderbar? – Die 100 venezianischen Wörter werden als kulturgeschichtliche Begriffe verstanden. Also geht es um die Herleitung ihrer Herkunft, aber auch um die Geschichte der Dinge, Personen, Speisen und Ereignisse, die sie bezeichnen. Jedes Wort generiert einen Artikel, dazu gibt es meist eine Abbildung und schließlich noch Literaturhinweise zum Weiterlesen. Unter fast jedem Artikel! Das liest sich sehr anregend, die Details der venezianischen Welten öffnen sich auf frische, neue Weise, von den Zacken des Gondelschnabels bis zu den Schnäbeln der Königsmöven, der Spazzini del mare (Straßenfegern des Meeres). Ein enormer Genuss! – Wollen Sie noch ein Beispiel nennen? – Ach, eine Auswahl fällt schwer. Man sollte dieses Buch langsam lesen, in Bruchstücken, wie rare und konzentrierte Kost. Schon bald wird es einen nach Venedig locken, etwa zu den frutaròli, den Obsthändlern, die ihre Ware am Rialto, aber auch auf zwei legendären Booten im Sestiere Dorsoduro und im Sestiere Castello, verkaufen. Manchmal verwandeln sie sich in herbaroli (Gemüsehändler) oder in naranzeri (Zitrusfrüchteverkäufer), die ihre Kundinnen und Kunden oft so burschikos anreden wie Kölner Köbesse ihre Gäste. – Was sagen sie denn so? – Sie verwenden das  kleine Füllwort ciò, was soviel bedeuten kann wie: eh!…los!..Ciò ist ein Ausruf des Erstaunens, auf den eine kleine Beobachtung oder Empfehlung folgt. – Ciò, Herr Ortheil, was machen Sie da im Schatten?! Wäre das typisch venezianisch? – Ja oder noch besser: Ciò, varda chi si vede! – Und das heißt? – Schau mal an, wen man da sieht…!

Einladung zu einer Lesung in München

Liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs,

am kommenden Mittwoch (20.7.2022), 19 Uhr, stelle ich in der Katholischen Akademie Bayern (Mandlstr. 23, in 80802 München) meine Bücher Ombra und Ein Kosmos der Schrift vor.

Nach der Lesung unterhalte ich mich mit dem Theologen Prof. Dr. Erich Garhammer, der ein exzellenter Kenner der deutschen Gegenwartsliteratur ist und über ihre Themen und Stoffe viel veröffentlicht hat (wie z.B. ein Theo-poetisches ABC).

Ich lade Sie herzlich zu dieser ganz besonderen Lesung ein. Ein sommerliches Wochenende wünsche ich Ihnen!

Rom am Rhein – eine Sommerfreude

Es gibt keine deutsche Stadt, in der die jahrtausendealte römische Vergangenheit in Dokumenten, Kunstwerken, Museen und Ausstellungen noch so gegenwärtig ist wie in Köln. Ihr alter lateinischer Name (Colonia Claudia Ara Agrippinensium) verweist auf ihre Gründung durch Kaiser Claudius, der seine in Köln geborene Frau Agrippina in den Gründungsnamen einbezog.

Ich erinnere mich gut an Schulzeiten, in denen diese römische Vergangenheit eine große Rolle spielte, im Unterricht, aber auch in der kindlichen Freizeit, als wir Kinder zum Beispiel im Karneval vor allem römische Kostüme trugen und uns aufführten wie elegante Römer, die am Rhein eine Stadtvilla besaßen, auf den Fluss schauten und Handel trieben.

Bis zum 9.10.2022 kann man die Schönheiten dieser großen Vergangenheit (auf die jeder wahre Kölner noch etwas stolz ist) in einer Ausstellung (Rom am Rhein) im Kulturzentrum am Neumarkt studieren. Ich empfehle einen sommerlichen Besuch in den gut temperierten Räumen und ein langes Abtauchen in die Dunkelheit, wo die ausgestellten Funde leuchten, dass es eine Freude ist.

Und ich empfehle, einen Besuch in dem italienischen Ristorante Luciano in der Marzellenstraße 68-70 anzuschließen, wo die Gäste (man sollte vorher einen Tisch draußen, im Freien, reservieren) bei Verzehr eines Gerichtes mein Buch Rom. Eine Ekstase als Geschenk erhalten. (Na, wenn das kein passendes Angebot ist…)

Begegnung mit einer Harlekinweide

Auf den ersten Blick erscheint die Harlekinweide wie ein unauffälliger beschirmter Standfuss inmitten der Sommerblüher. Sie selbst blüht nicht mehr, leuchtet aber mit ihren Blättern in den vielfältigsten Schattierungen.

Als zöge sie die Schatten zu sich, ins Innerste – und als würfe sie lauter Nuancen von Grün, um von ihnen abzulenken.

Ihre Herkunft ist japanisch, was man sofort assoziiert, wenn man ihre Gestalt länger studiert: Dieser puristische Wille zur Form, bei betonter Schlichtheit!

Ich umrundete sie – von allen Seiten und Richtungen her leuchtete ihre Gestalt in gleicher Intensität. Einen Windzug erduldete sie fast ohne Reaktion, wie ein leichtes Kämmen.

Schon bald wünschte ich mir ihre Begleitung in den eigenen Garten. Zunächst werde ich sie in einen Topf pflanzen und in meiner Nähe postieren. Wenn ich meine Schreibstube verlasse, wird sie vor der Tür stehen und mir zuraunen: Schau, so einfach!!

Flora

Im Vorwort zu seinem weit ausholenden Buch über „die ganze Welt der Pflanzen“ fragt sich Hansjörg Küster, Professor für Pflanzenökologie, warum wir uns sehr wohl für Tiere und Menschen, erst an dritter Stelle aber für Pflanzen interessieren. Wir besuchen zoologische Gärten, selten aber botanische. Dabei wäre das Leben auf der Erde ohne Tiere und Menschen möglich, nicht aber ohne Pflanzen.

Küster erläutert ihre bedeutende Rolle im Lebenskreislauf und macht uns mit allen Details in aufsteigender Linie bekannt: von den einfachsten Organismen über die Pflanzenzelle, die Wurzel, den Spross, das Blatt, die Blüten und Früchte. So lernen wir die Lebensgeschichten der Pflanzen genau verstehen und finden Interesse an der oft hinreißenden Ästhetik ihrer jeweiligen Gestalt.

Das alles aber nicht in einer trockenen, akademischen Diktion, sondern aus der Sicht eines Naturenthusisasten, der über Schönheit zu schreiben versteht, ohne verblasenes Vokabular zu verwenden.

Ein Sommerbuch für Leserinnen und Leser, die den Pflanzen der hellsten Jahreszeit so nahe wie möglich kommen wollen!

  • Hansjörg Küster: Flora. Die ganze Welt der Pflanzen. C.H.Beck 2022

Der Stromkreis des Erzählens

(Am 12. Juli 2022 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

„Inter arma silent musae“ („Während des Krieges schweigen die Musen“) ist ein bedenkenswerter Satz, den der Berliner Kunsthistoriker Wilhelm von Bode während des Ersten Weltkriegs in Abwandlung eines Cicero-Satzes („Inter arma silent leges“) erfand.

Jetzt, im Verlauf des Ukraine-Krieges, bewahrheitet er sich in mancherlei Hinsicht. Viele Autorinnen und Autoren der Ukraine schreiben nämlich nicht weiter an ihren literarischen Texten, sondern verlegen sich häufig auf journalistische. Während sie in früheren Zeiten noch Erzählungen, Romane, Dramen oder Gedichte schrieben, arbeiten sie jetzt an Blog-Einträgen, Artikeln oder Tagebuch-Notaten.

Dass die Musen in kriegerischen Zeiten schweigen, folgt aus der besonderen, animierenden Wirkung, die man den neun Musen in der Antike zusprach. Sie waren die Göttinnen, die den Künsten zugeordnet waren und zu ihrem Schutz beitrugen. Sie stimulierten Lyrik, Tanz oder Drama und personifizierten deren öffentliche Präsenz. Der Krieg nimmt ihnen die Kraft und lässt sie verstummen – diese resignierte Einsicht steckt hinter dem Satz Wilhelm von Bodes.

Blogs, Artikel und Tagebücher ukrainischer Autorinnen und Autoren sind derweil eine nicht mehr fortzudenkende, wichtige Quelle unserer fernen Blicke auf die Kriegsereignisse. Manche dieser Texte las ich in letzter Zeit meiner bald neunzigjährigen Nachbarin vor, die sich TV-Bilder der getöteten Menschen und der zerstörten Städte nicht mehr anschauen mag. Dabei erfuhr ich viel über die besondere Wirkung dieser Texte, weil sie Erinnerungen und Bilder an die weit zurückliegenden Kriegsereignisse hier in Deutschland abriefen. Wovon wird erzählt, was wird durch diese Texte deutlicher als durch alle TV-Bilder?

Im Ukrainischen Tagebuch der Autorin Oxana Matiychuk zum Beispiel geht es um alle nur denkbaren Facetten des Alltags im Krieg. In ihrem Heimatort Czernowitz treffen Flüchtlinge ein. Wo bringt man sie unter, wo beschafft man die notwendigsten Dinge, angefangen von Küchengeräten über Spielsachen für die Kinder bis zu Tierfutter für eine Katze? Nichts ist mehr selbstverständlich, die Lebenskreise des früheren Alltagslebens sind schwer gestört und laufend geht es darum, das Leben neu zu improvisieren, den Lebensmut zu erhalten und manchmal sogar (wenn auch nur für die Kinder) so etwas wie momentane Lebensfreude zu ermöglichen.

Genau diese Erlebnisse sind es, die meiner älteren Nachbarin vertraut erscheinen. Im Alltag des Krieges wirken die Lebensäußerungen stark gedämpft und punktuell. Die Erfahrung von Zeit ist eine der kurzen Augenblicke, in denen sich ungeplante Bewährungen abspielen, die trotz großen Einfallsreichtums keinen dauerhaften Halt versprechen. Die Menschen sind aufeinander angewiesen und rücken enger zusammen denn je. Hilfsbereitschaft und Verständnis sind oberste Tugenden, die keiner verordnen muss, sondern die sich von selbst ergeben.

Deutlicher wird die Wertschätzung auch kleiner Dinge und unscheinbarster Handlungen. Wohnungen, Möbel, Gegenstände erscheinen nicht mehr als privater Besitz, sondern als Angebot, von dem viele Menschen Gebrauch machen. Notgedrungen entwickelt das Leben frische Ketten sozialer Bindungen, über die auch die Geschichten vom Krieg Nahrung erhalten. Nachrichten, Telefonate und Erzählungen lassen den Stromkreis eines Erzählens entstehen, das jede einzelne Mitteilung auf den Prüfstand legt, abklopft und die möglichen Konsequenzen bedenkt.

Die gegenseitige Nähe, die forschende Umsicht und das nicht aufhörende Sprechen der Menschen – sie sind die Voraussetzungen dafür, dass auch nach diesem Krieg die Musen sich wieder rühren werden. Langsam und allmählich wird das Erlebte und Erzählte zu ihrem Stoff werden, und wir werden von dem lesen und das empfinden, was wir durch keine TV-Bilder erfahren haben.

Das Foto schaute mich an

 Die in Kiew geborene und heute in Berlin lebende Schriftstellerin Katja Petrowskaja hat sich einige Jahre lang in Fotografien vertieft, die sie in Ausstellungen, Zeitschriften oder Zeitungen eher zufällig entdeckt hat. Darüber hat sie kurze Kolumnen geschrieben, die zunächst in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen und jetzt in einem Band der Bibliothek Suhrkamp gesammelt sind.

Die Kolumnen sind keine bloßen Beschreibungen dessen, was zu sehen ist, sondern Geschichten, die davon erzählen, wie das jeweilige Foto näher und näher rückt. Es tritt aus dem Strom der sonst noch gesehenen, flüchtigen Bilder heraus, der Blick fixiert es lange und stellt eine innere Verbindung her.

Katja Petrowskaja erzählt also davon, wie das Foto zu einem Teil ihres Lebens wird, wie es seine anfängliche Fremdheit verliert und seine Fühler nach dem Seelenleben der Betrachterin ausstreckt.

Die Wirkung ihrer Texte auf eine Leserin/einen Leser ist enorm: Man sehnt sich danach, auch für sich selbst, im eigenen Rahmen, solche Fotos „zu entwickeln“, man erlebt Fotos genauer und hält in seinen Lektüren und Blicken immer wieder inne: Halt?! Schaut dieses Foto mich an?! Aber warum – und was schaut da genau?!

Ein Buch für Wahrnehmungsfetischisten, die nach Worten suchen und präzises Schreiben lieben!

  • Katja Petrowskaja: Das Foto schaute mich an. Kolumnen. Suhrkamp Verlag 2022

Am Tag des Kusses

Am frühen Morgen hörte ich davon, dass heute der Tag des Kusses gefeiert wird. Das erinnerte mich an meine Erzählung Der Kussteufel , die Mitte Oktober in meinem Buch Charaktere in meiner Nähe (Reclam-Verlag) erscheinen wird:

Der Kussteufel erfährt die Welt über seine hoch empfindlichen Lippen, mit denen er alles berührt, was ihn besonders anzieht.

Geht er auf den Wochenmarkt, kann er den Blick nicht vom ausgelegten Obst und Gemüse abwenden. Er lässt sich die schönsten Äpfel und Pfirsiche reichen und tut so, als rieche er an ihnen. Dabei küsst er sie flüchtig, um ihre Haut und ihren Pelz zu spüren.

Obst und Gemüse, das ihn begeistert, nimmt er in wenigen Exemplaren mit nach Hause. Unterwegs bleibt er hier und da stehen, greift nach einer Pflaume oder einer Birne, lässt die Lippen auf ihrer Schale kreisen und beißt schließlich genießerisch wie ein Vampir heftig zu.

Ist er in der Stadt unterwegs, vibrieren seine empfänglichen Lippen im Rhythmus seiner Schritte. Immer wieder verlässt die Zunge die Mundhöhle und sondiert den Lippenbefall nach allem, was die Atmosphären bereit halten.

Süßes, Saures, Scharfes, Bitteres, Metallisches – er könnte wie kein anderer davon erzählen, was Straßen, Häuser und Menschen ihm an flüchtigen Nährstoffen bieten.

Im Kino schließt er angewidert die Augen, wenn Paare sich küssen: „Sie können es einfach nicht, sie verstehen vom Küssen nicht das Geringste.“

Fragt man ihn, ob er jemals bereit gewesen wäre, in einem Spielfilm mitzuwirken, um durch einen Kuss zu glänzen, antwortet er vielsagend: „Michèle Morgan hätte ich mir als Partnerin vorstellen können, in den späten dreißiger Jahren, in Hafen im Nebel…“

Freundinnen und Freunde begrüßt er auf der Straße nie mit einem Kuss: „Ein Kuss ist das Schönste und Innigste, das es gibt. Um zu küssen, bedarf es einer eigenen Aura, in Wald und Wiese, auf dem Wasser, am besten draußen im Freien, dort, wo zwei Menschen wirklich einmal allein sind.“

Soll er vom Geheimnis des Küssens sprechen, bleibt er ungenau und besteht darauf, dass es ein Geheimnis sei. Immerhin soll er aber einmal preisgegeben haben, dass die Hirnmoleküle während des Kusses angeblich frei zu tanzen beginnen, vor lauter Freude und keineswegs vor billiger Lust.

Bedrängt man ihn weiter, spricht er davon, dass Küssen etwas Hocherotisches sei: „Sexualität ist banaler Körpersport, ein Kuss dagegen ist Mozart, ein Hauch von Cherubino oder, mit anderen Worten: Triebfreie Wollust…“