Hanna: Du hast in der Auszeit erneut Kafka gelesen, das Jubiläum des 100. Geburtstages wirkt nach, oder?
HJO: Ja, ich habe während dieses Jahres wieder mehrere Anläufe zur Kafka-Lektüre unternommen. Es gab sie auch in früheren Zeiten, sie hielten kurz an, dann habe ich wieder aufgegeben. Ich habe mich mit Kafkas Texten nur schwer anfreunden können. Ich habe viele auch nicht gerne gelesen. Andererseits habe ich ihre enorme Strenge und Klarheit sehr bewundert. Das half aber nicht. Ich habe also immer weiter nach einem Zugang gesucht.
Hanna: Hast Du Biografien oder literaturwissenschaftliche Deutungen gelesen?
HJO: Sehr ungern. Biografien über Kafka kamen mir oft so vor, als würden sie diesen Schriftsteller überstrapazieren. Und Deutungen taten das in meinen Augen erst recht. Ich suchte nach einem unmittelbareren Zugang, ohne die Präsentationsformen von Biographien oder Analysen. Ihre Methodiken machen aus Kafka oft eine kuriose Figur, die um jeden Preis etwas Schräges und Blutarmes haben soll.
Hanna: Keine Biografien, keine Deutungen – was denn? In diesem Jahr sind doch gute, sehr lesenswerte Bücher über Kafka erschienen!
HJO: Welche meinst Du?
Hanna: Zum Beispiel die Kafka-Bücher von Rüdiger Safranski (Kafka. Um sein Leben schreiben) und Andreas Kilcher (Kafkas Werkstatt. Der Schriftsteller bei der Arbeit). Die müssten Dir doch gefallen haben. Sie zielen beide auf den besonderen Schreibimpuls Kafkas, auf seine lebenslange Bindung ans extreme Schreiben und daran, dieses Schreiben als das Zentrum des Lebens zu betrachten.
HJO: Stimmt, ja, diese beiden Bücher sind weit entfernt von starrer Biographik und der Versuchung, jedes Lebensdetail auszustellen. Sie sind sehr gegenwärtig, indem sie vor allem das Schreiben zum Thema machen. Und das wäre ja auch genau der Moment, der mich an Kafka beschäftigt und interessiert: Schrifthingabe, bis zur Auslöschung alles anderen. Dieses Moment ist mir sehr nahe. Ich bin aber noch einen Schritt weiter zurückgegangen und habe Zugänge gesucht, der mir noch größere Freiheiten lassen.
Hanna: Und das wären?
HJO: Ich habe mich an einen Essay von Elias Canetti erinnert, den ich wohl noch als Schüler im Jahr 1969 zum ersten Mal gelesen habe. Damals ist er im Carl Hanser-Verlag als schmales Buch erschienen (Elias Canetti: Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice). Der Anlass war die Veröffentlichung dieser Briefe. Ein Band mit 750 Seiten Briefen an die Verlobte Felice Bauer! Elias Canetti hat die Lektüre infiziert und getroffen, gleich zu Beginn seines Essays schreibt er: „Ich habe diese Briefe mit einer Ergriffenheit gelesen, wie ich sie seit Jahren bei keinem literarischen Werk erlebt habe.“ Das ist mir ähnlich gegangen. Ich habe Kafka eher in seinen Briefen entdeckt, er war ja ein manischer Briefeschreiber, oft waren es mehrere an einem Tag. Indem er ein Gegenüber fixierte, ließ sich die Hemmung, „Literatur“ schreiben zu müssen, überspringen. Die Briefe selbst wurden zu „Literatur“, dieses Schreiben räumte ihm alle Freiheiten der Welt ein und band ihn nicht an Themen oder Genres. Canetti geht ihren Motiven nach und erzählt die Geschichte einer Verbindung wie ein Drama mit vielen Akten, Höhepunkten und Katastrophen. Als Leser ist man so einerseits sehr nahe an Kafka, andererseits aber auch nahe an Canetti, der jede Regung in den Briefen nachempfindet. Das ist keine Biographik und keine Analyse, sondern einfach so, dass sich ein sehr aufmerksamer Leser aller Spuren annimmt und sich fragt, wohin sie führen und woher sie kommen.
Hanna: Du schlägst also vor, dieses Canetti-Buch zu lesen?
HJO: Ja, fürs Erste. Unbedingt. Es geht nicht darum, viel Faktisches über Kafka zu wissen, sondern darum, ihm so nahe wie möglich zu sein. Und das erreicht Canetti wie wenige andere.
Hanna: Hast Du noch einen zweiten Vorschlag für eine solche Annäherung?
HJO: Ja, habe ich. Nächstens mehr.