Woher wir kommen

Im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien läuft seit dem 24. April 2025 eine interessante Ausstellung, deren Titel die Themen vorgibt: Woher wir kommen. 

Gezeigt werden ungewöhnliche Handschríften und Lebensdokumente aller Art, die den Herkunftsraum von Schriftstellerinnen und Schrifstellern beleuchten. Die dadurch eingeleitete Spurensuche betrifft aber nicht nur Orte und Kindheitslandschaften, sondern untersucht auch die Lebenskonstellationen.

So weit gefasst, lassen sich die Fragen an die Besucherinnen und Besucher weiterleiten, die aufgefordert sind, die Geschichte ihrer eigenen Lebenshorizonte zu erkunden: Wie sah die Welt aus, in der ich groß wurde? An welche Menschen, Dinge, Klänge, Bilder, Speisen erinnere ich mich? Wie habe ich sie als Kind gesehen oder gehört? In welcher Begleitung?

Solche Fragen werden vor allem durch autobiografische Texte eingefangen, zu deren Fixierung die Ausstellung inspirierend anleitet.

https://www.onb.ac.at/museen/literaturmuseum/programm/woher-wir-kommen#c16460

Wer nicht nach Wien reisen kann, um die Dokumente vor Ort zu sehen, könnte sich in das Begleitbuch vertiefen, das, herausgegeben von Cornelius Mitterer und Kerstin Putz, im Zsolnay-Verlag erschienen ist:

Woher wir kommen. Literatur und Herkunft

20 mal Joseph Haydn

Der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer hat zwanzig bekannte Autorinnen und Autoren zu einer „literarischen Sinfonie“ über Joseph Haydn (1732-1809) eingeladen.

Entstanden ist eine lockere Prosa-Galerie von Ansichten, Blicken und Umkreisungen, in denen sie ihre Nähe zu einem Komponisten entwerfen, der sich allen Genie-Stilisierungen entzogen hat und „als Person hinter seinem Werk beinahe verschwunden ist“. Gerade das, schreibt Sulzer weiter in seinem Vorwort, sei ein „idealer Ausgangspunkt“ dafür, Haydn literarisch frei und neu zu erfinden.

Und so liest man Haydn-Variationen von Alfred Brendel, Franz Hohler, Daniel Kehlmann, Eva Menasse, Peter Nádas, Elke Schmitter und anderen, unter denen auch ich mir die Aufgabe stellte: „Wie ich von Joseph Haydn erzählen könnte…“ (S. 63-74).

Erschienen ist das Ganze in einer schön ausgestatteten Ausgabe der anderen Bibliothek („gestaltet und ausgestattet vom studio-lindhorst-emme+hinrichs, Berlin“).

Diese Lektüren könnte man weiterführen und beleben mit den Haydn-Interpretationen der Pianistin Schaghajegh Nosrati, die gerade erschienen sind.
Damit verbunden, wünsche ich allen Leserinnen und Lesern ein Haydn-inspiriertes Wochenende!

Kochbuch eines japanischen Bildhauers

Warum habe ich dieses Buch nicht längst in meinem Blog vorgestellt? Seit Jahren liegt es in der Küche, wo ich immer wieder hineingeschaut und mich als bekennender Freund japanischer Ästhetik über die verblüffende Verbindung von Kochen und Kunst gefreut habe.

Sein Autor ist der 1979 in Tokio geborene Shinroku Shimokawa, der nach einem Studium der Bildhauerei in seinem Geburtsort an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart studierte und seit 2015 dort lebt.

In seiner Kurzvita wird darauf hingewiesen, dass „Feldforschung und Materialerkundung“ die „wichtigsten Bestandteile seiner künstlerischen Tätigkeiten, in der Bildhauerei wie auch beim Kochen“ seien.

Wie das genauer zu verstehen ist, sagt Shimokawa in seinem Nachwort. Kochen und Kunst beginnen mit der Beobachtung des Materials und den Überlegungen dazu, wie es zu bearbeiten und zu verändern sei. Zerkleinern, schlagen, schieben – das sind experimentelle Versuche des dialogischen Umgangs mit dem Stoff, durch die dem Material neue Gestalten zugefügt oder entlehnt werden.

Zahlreiche Fotografien des Künstlers durchziehen das Buch wie ein vielstimmiger Chor. Sie präsentieren die Zutaten und zeigen ihr Dekorum in schönen, schlichten Formen japanischer Keramik – während der dritte Part aus Materialaktionen mit Stein, Holz, Feuer oder Bronze besteht.

Die Rezepte folgen keiner traditionellen Vorstellung von Kochen, sondern sind eher Erzählungen, die eine Speise als Geschichte ihrer Erkundung vorstellen.

Das Ergebnis ist ein immens vielfältiges Bildgeschehen, das man nicht hurtig durchblättern mag, sondern in dessen verschiedenen Sprachen man immer wieder verweilt, um der besonderen Schönheit einer Komposition nachzugehen.

Die Großkapitel folgen den vier Jahreszeiten. Jetzt, im Sommer, geht es zunächst um getrockneten Fisch, der in Japan lieber gegessen wird als frischer oder gegrillter. Wir nehmen ihn aus, legen ihn eine Stunde in Salzwasser und lassen ihn in einem Trockennetz zwei bis drei Tage im Halbschatten trocknen. Im Kühlschrank können wir ihn danach eine Woche aufbewahren.

Shimokawas Küchenexperimente entwickeln sich draußen und drinnen – beim Sammeln von Pilzen, Blättern und Ginkokernen oder in großen Töpfen, wo die legendären Eintöpfe aus einer unnachahmlichen Brühe entstehen.

Irgendwann musst Du einmal mit einem Rezept anfangen, habe ich mir neulich gedacht und es (aus alter Freude an Chili jeder Art) mit einem einfachen Start versucht: „Knoblauch und Ingwer sehr fein hacken und in einem kleinen Topf mit Chili, Wasser und Fischsoße aufkochen. Sobald die Soße kocht, noch drei Minuten weiterkochen. Die Soße mit Speisestärke etwas eindicken und eventuell nachwürzen.“

Ich habe an diesem Abend nichts anderes gegessen als nur diese Soße. Kombiniert habe ich sie mit Kohl und Fenchel, ja sogar mit Rettich und Radieschen. Während ich dem Rezept folgte, reagierte ich auf die zurückhaltenden Empfehlungen: … sehr fein hacken …, kleiner Topf …, aufkochen und weiterkochen …, etwas eindicken und nachwürzen … – ich kochte vorsichtig, wie auf Zehenspitzen.

Shinroku Shimokawa: Man kann keine Steine essen. Kochbuch eines Japanischen Bildhauers. Prima.Publikationen Stuttgart/Basel

Walk don´t walk in New York

2001 hat der Hamburger Filmemacher Thomas Struck eine kleine Kamera an einem Stock befestigt und ist mit ihr durch die Straßen von New York gegangen.

Entstanden ist ein wunderbar quirliger Film, der die herumwuselnden Menschen nicht auf Augen-, sondern auf Fuß- und Beinhöhe beobachtet: Walk don´t walk.

Jetzt hat dieser Film eine digitale, neue Version erhalten und wird in vielen Kinos gezeigt. Abrufbar ist er zu Hause aber auch über Prime Video.

Hier kann man die kurzen Notizen nachlesen, die Thomas Struck selbst zu seinem Film gemacht hat:

http://www.thomasstruck.de/struck/film/walk.html

Und hier kann man einen Text von Lukas Foerster lesen, der den Film vorstellt und zu deuten versucht:

https://www.perlentaucher.de/im-kino/filmkritik-zu-walk-don-t-walk-von-thomas-struck.html?r=print

Ingeborg-Bachmann-Preis 2025

Auf 3sat können in diesen Tagen (heute etwa von 10.00 Uhr bis 14.38 Uhr) alle Leserinnen und Leser, die an neuer und junger Literatur interessiert sind, Texte und Lesungen studieren, die sich der Beobachtung durch eine Jury stellen.

Ich empfehle, von der folgenden Webseite auszugehen und von ihr aus die eigenen Wege zu erkunden, auf denen man sich dem Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2025 nähert:

https://bachmannpreis.orf.at/stories/3285605/

Man kann die Texte herunterladen und sie zunächst einmal in Ruhe für sich lesen. Man kann sie mit den Aufzeichnungen der Lesungen kontrastieren, oder man kann die Diskussionen der Jury abrufen, um möglichst viele Perspektiven ihrer Deutung kennenzulernen.

Am Sonntag ist die Preisverleihung (von 11.00 Uhr bis 12.15 Uhr) – die wiederum sollte man live verfolgen.

Der Preis erinnert an die große österreichische Lyrikerin, die in Klagenfurt geboren wurde. Ihr nähert sich diese Dokumentation:

Allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich ein leseintensives Wochenende!

Ein Romangespräch mit Maria Bidian – in der Akademie der schönen Künste München

Am Donnerstag, 3. Juli 2025, spreche ich um 19 Uhr mit der rumänien-deutschen Schriftstellerin Maria Bidian über ihren im Zsolnay-Verlag erschienenen Roman Das Pfauengemälde. Gemeinsam erkunden wir die vielen Valenzen der unterschiedlichen Künste (Malerei, Musik, Literatur, Film), die den Roman mit inspiriert haben.

Die Veranstaltung findet in der Akademie der Schönen Künste in München statt, deren Mitglied ich seit 1996 bin. Der Eintrítt ist kostenfrei, man sollte aber rechtzeitig erscheinen, da wegen des wahrscheinlich großen Publikumsinteresses vorher Platzkarten vergeben werden. Wo und wann das erfahren Sie u.a. hier:

https://www.badsk.de/veranstaltungen/2025/wie-ein-deb%C3%BCtroman-entsteht

Die Schönheit des Agriturismo

(Heute, am 23.06.2025, auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Die großen Ferien rücken näher und mit ihnen die Überlegungen meiner Freunde, wohin sie verreisen wollen. Viele haben sich noch nicht entschieden, weil sie diesmal keinen sportlichen oder kulturhistorischen Impulsen nachgehen, sondern die Folgen des Klimawandelns ernst nehmen.

Wenn es zum Beispiel laut langfristiger Wettervorhersagen in Italien frischer werden wird als bei uns zu Hause, erhält der Süden den ersten, starken Pluspunkt. Nichts wie hin, aber möglichst ans Meer, wo ein sanfter Wind am blauen Himmel weht, verbunden mit abendlichen Aufbrüchen zum Übernachten in den Berglandschaften an der Küste.

Dort findet man jene kulturellen Errungenschaften, die weitere Italienpunkte sammeln. Es sind die Niederlassungen des italienischen Agriturismo, dessen Vorzüge gegenüber traditionellen Unterkünften wie Hotels, Pensionen oder B&B für sich sprechen.

„Agriturismo“ nennt man unter Eingeweihten nämlich jene meist isoliert liegenden und ästhetisch ansprechenden Landhäuser mit landwirtschaftlichem Grundbesitz, dessen Erzeugnisse von den dazu gehörenden agrarisch orientierten Küchen serviert werden. Abends sitzt man in frei daliegenden, offenen Gärten, schaut auf die Terrassen des Haupthauses, trinkt den in der Nähe geernteten Wein und genießt das Öl aus den Olivenhainen gleich vor der Tür.

Die Speisen sind ausschließlich regionale und werden von Köchinnen zubereitet, die eine Kenntnis ältester Kochkulturen vor Ort mit einer während der Ausbildung erworbenen Kochkunst in der weiten Welt verbinden. Das servierte Pollo arrosto (gebratenes Hähnchen) hat noch den Boden der nahen Umgebung durchpickt und ist von solcher Qualität, als wäre es bei Meister Moissonnier zumindest kurz in die Aufnahmeprüfung gegangen.

Man isst daher individuell zubereitete Speisen, wie es sie nirgends sonst gibt, trinkt dazu einen Tropfen, der um die nächste Ecke produziert wird und lauscht dem Gespräch der Gäste aus den nahen Orten, die abends manchmal einfallen und ein großes Fest feiern. Taufe, Erstkommunion und Hochzeit sind die beliebtesten, aber auch Geburtstage von gerade einmal Zweijährigen werden mit dem vollen Aufgebot der Verwandtschaft so gefeiert, als habe das anmutige Kind bereits einen großen Verdienstorden des Landes für „Nichts und wieder nichts“ erhalten.

Wer sich Agriturismo nennen darf und wer nicht, wird von staatlicher Seite Jahr für Jahr streng kontrolliert. Viele Bedingungen müssen erfüllt sein: Der Anbau von Gemüse und heimischen Pflanzen, ein offener Speisesaal mit dazu gehörender großer Küche, Gästezimmer in überschaubarer Zahl und die Fähigkeit, die ländliche Umgebung so zu vertreten, dass ihre gewachsene und besondere ästhetisch-historische Gestalt mit in Erscheinung tritt.

Entstanden sind diese an ältesten römischen Traditionen des antiken Lebens orientierten Gebilde, um die Landflucht der Bevölkerung aufzuhalten, die agrarischen Kulturen zu stärken und den Gästen andere Versionen des Tourismus zu bieten als das Bad am überfüllten Strand oder die Führung durch eine Großstadt auf den immergleichen Wegen von einer Sehenswürdigkeit zum nächsten Instagramfoto.

Man glaubt sich in der ruhigen, stillen Schönheit dieser attraktiven Räume in das Landleben der alten Römer in den Bergen um die Ewige Stadt versetzt und denkt daran, dass antike Theoretiker wie Cato der Ältere mit der Schrift „De agricultura“ (Vom Ackerbau) oder der in der Nähe von Köln ansässige Apicius mit „De re coquinaria“ (Von der Kochkunst) einmal die Grundlagen für dieses sehr besondere Dasein fixiert haben.

Womit wir uns auf Umwegen mit dem Gedanken vertraut machen, irgendwann in die deutsche Heimat zurückkehren zu müssen, um endlich mal wieder ins Römisch-Germanische Museum zu gehen und Texte zu lesen, die uns an unsere eigene Vergangenheit erinnern.

Der Pianist Alfred Brendel ist gestorben

Vor wenigen Tagen ist der Pianist Alfred Brendel in seinem langjährigen Wohnsitz London im Alter von 94 Jahren gestorben. Ich erinnere mich an viele seiner Konzerte, die ich in Köln, Wiesbaden oder Salzburg begeistert miterlebt habe.

Brendel war nicht nur ein bedeutender Beethoven- und Schubert-Interpret, sondern auch ein weitsichtiger Analytiker, der über die von ihm gespielten Kompositionen kluge Bücher geschrieben hat. Besonders empfehle ich Über Musik. Gesammelte Essays und Reden (2007) und A bis Z eines Pianisten. Ein Lesebuch für Klavierliebende (2012). 

Zur Erinnerung an seine hohe Interpretationskunst verweise ich auf die Einspielung eines Schubert-Impromptus und verbinde den Hinweis mit guten Wünschen für die Leserinnen und Leser des Blogs an diesem Wochenende.

Vor einer italienischen Mahlzeit

Am 04. Juni 2025 habe ich in diesem Blog das Buch eines norwegischen Autors über Ein Abendessen in Rom vorgestellt, das von den Ritualen italienischer Mahlzeiten erzählte. Daran erinnerte ich mich während meiner Pfingstferientage, als ich vor einer Mahlzeit diese Komposition von Lebensmitteln und Dingen auf meinem Tisch erkannte:

Ich schaute also auf eine kleine Riege, die während der Mahlzeit zum Einsatz kommen würde: Eine Salz- und eine Pfeffermühle, ein Körbchen mit frischem Brot, Olivenöl, Wein und Mineralwasser.

Die römisch-antike Esskultur hat den Einsatz genau dieser Verfeinerer und Begleiter von Speisen seit Jahrtausenden kultiviert, und die antiken Theoretiker von Ackerbau und Kochkultur haben die Grundlagen gelegt – so etwa Catos Schrift De agri cultura und das Büchlein des Apicius De re coquinaria.

Landwirtschaft, Naturstudium und die Zubereitung der Speisen bildeten eine Dreiheit, deren Nachleben man heutzutage noch auf jedem kultivierten italienischen Esstisch erkennt.

Ich muss zugeben, dass mich das freute und so lange davon sprechen ließ, bis meine Tischgesellschaft mich bat, endlich auch mit dem Essen zu beginnen …

Das Instagram-Auge im Süden

Während meiner Pfingstferientage im Süden habe ich mein Instagram-Auge bemüht, um kleine Texte zu strukturieren, die sich eng an die geposteten Fotos anlehnten (zu verfolgen unter www.instagram.com – hannsjosefortheil – eine kleine Auswahl füge ich weiter unten als Collage hinzu).

Beobachtet man dieses Verfahren, könnte man darauf kommen, dass es eine starke Inspirationsquelle für einen erzählerischen Text ist. Die vorhandenen Textsplitter würde man zusammenstellen und daraus eine fortlaufende Geschichte entwickeln.

Um sie in Bewegung zu versetzen, bräuchte man Figuren. Die habe ich bisher noch nicht erfunden, könnte aber nachträglich versuchen, einige mit den beschriebenen Räumen zu verbinden: Das Kind an der Fussdusche am Strand, den Strandstückbesitzer als Aufseher, die Bedienung im Strandrestaurant etc.

Auf diese Weise könnte ein längerer Text (Erzählung?/Raumskizze?) entstehen, der aus beobachteten Raumkomponenten hervorgeht und sich dann weiter verzweigt.

Vielleicht möchten Sie dieses kreative Experiment selbst einmal durchspielen, mit diesen Fotos oder mit eigenen?