Das Vorabexemplar

Heute, gegen 12.21 Uhr, bringt mir der Postbote (in seinem gelben Renault Kangoo) das Vorabexemplar meines neuen Buches (Was ich liebe – und was nicht). Zwischen Buchfolie und Buch steckt gut sichtbar eine handgeschriebene Glückwunschkarte meines Verlegers, der dieses Buch hemmungslos lobt und ihm allen nur erdenklichen Erfolg wünscht. Ich ziehe die Folie ab und stecke die Karte hinten ins Buch, mal sehen, welche Wirkung sie in den nächsten Wochen entfaltet. Dann bin ich allein mit all den Seiten, an deren genauen Inhalt ich mich kaum noch erinnere (diese Texte wurden vor vielen Monaten geschrieben). Was mache ich nun damit? Ich bin im Besitz eines Buches, das an diesem 14. Oktober 2016, 12.21 Uhr, kein anderer Mensch außer mir wirklich besitzt. Es liegt noch in keiner Buchhandlung aus, und noch kein Rezensent hält dieses Buchexemplar in den Händen (sondern hat höchstens bereits die Druckfahnen gesehen). Ich habe große Lust, dieses Buch sofort zu lesen. Mal sehen, was mir alles so eingefallen ist und wie es jetzt auf mich wirkt. Soll ich mich in mein Arbeitszimmer zurückziehen? Nein, das wäre lächerlich. Aber wo sollte ich es sonst lesen? Unter Menschen, in der Stadt, da, wo viel los ist! Und so packe ich das Vorabexemplar in meine alte Umhängetasche, stecke noch einen Notizblock und einige Bleistifte ein und gehe hinab ins Tal zur nächsten Straßenbahnlinie, die mich in die Innenstadt bringt. Ich setze mich in ein Café und lese dort in Ruhe mein eigenes Buch. Es ist ein königliches Gefühl, als wäre man im Besitz eines geheimen Schatzes, den niemand kennt und um den auch niemand weiß. Während der Lektüre mache ich mir Notizen, als wäre ich ein Kritiker, der eine Rezension schreiben muss. Nach etwa einer Stunde wechsle ich (schon etwas euphorisiert) in die große Markthalle und lese in den Markthallenstuben bei einem Glas Wein weiter. Ich lese den gesamten Nachmittag bis tief in den Abend an wechselnden Schauplätzen der Stadt. Am Ende habe ich mir große Teile des Buches einverleibt, langsam und voller Genuss, wie ein Menu mit vielen unterschiedlichen Gängen. Jetzt kann ich damit auf Lesereise gehen, denn erst jetzt kenne ich es wenigstens einigermaßen und weiß: was in ihm steckt und was nicht.