Alle drei bis vier Jahre löse ich meine Bibliothek auf. Ich gehe (rutsche, krieche auf den Knien) an den vielen Regalen entlang, lese jeden (aber auch jeden!) Buchrücken und nehme manche Bücher wieder in die Hand. Jedes einzelne von ihnen hat eine Geschichte (die seines Erwerbs, seiner Lektüre, seiner Nicht-Lektüre, seines Dösens und Wartens …). Ich erinnere diese Geschichte kurz und wäge in Sekundenbruchteilen ab, wie es mit ihm weitergeht: Soll es noch mehr Zeit mit mir verbringen, wäre es anderswo besser aufgehoben oder ordne ich es an anderer Stelle ein (wo es mehr Chancen hat, bald genauer gelesen zu werden)? Meine Bibliothek hat viele unterschiedliche Zonen: Bücher, mit denen ich ununterbrochen Kontakt halte, Bücher nahe dem Garten (sie werden oft draußen im Freien gelesen), Bücher, die eine Tendenz zum Musikalischen oder zur Musik haben, oder Bücher, die ich aus einer bloßen Laune heraus nachts lese (als könnte ich mich tagsüber nicht mit ihnen sehen lassen … – oder als legten sie es darauf an, mich unbedingt nachts zu fesseln …). Die Bibliothek aufzulösen, meint also: Ich ordne sie neu, sondiere manche (zum Verschenken) aus und mache dadurch den anderen Platz, damit möglichst bald neue Exemplare (die im Jahr 2018 gekauften oder sonstwie erworbenen) einziehen können. Ich besitze lange Listen, die das Erscheinen und Verschwinden der Bücher genau vermerken. Die Auflösung meiner Bibliothek zu Jahresbeginn nimmt also viel Zeit in Anspruch. Sie ist erst beendet, wenn ich ein ausführliches Gespräch mit all meinen Büchern geführt habe. Wie ernsthaft die meisten mich begleiten! Wie steif und gesetzt sie herumstehen und ihr Satzfutter oft jahrelang wiederkäuen! Und wie munter die eher abwegigen sich die Zeit vertreiben! Ganz zu schweigen von den elementaren, die eine Welt tragen und kein Verschieben oder Umordnen hinnehmen, sondern sich in einem solchen Fall rächen. Ich sollte eine Geschichte der unterschiedlichen Büchercharaktere schreiben: Welche „Beziehung“ ich zu ihnen unterhalte oder aufbaue, wie ich sie füttere, wie ich sie (in Krisenfällen) zu therapieren versuche, wie ich mit manchen von ihnen „täglichen Umgang pflege“ …