Die hasel blühen – kleiner Hymnus auf ein großes Gedicht

Noch einmal zurück zu den blühenden Haselnusssträuchern. Sie erscheinen in einem Gedicht, das in meinen Augen eines der nicht nur schönsten, sondern auch gelungensten deutschen Gedichte ist. Geschrieben hat es der Dichter Stefan George (1868 – 1933), dessen einhundertfünfzigsten Geburtstag wir am 12. Juli 2018 feiern.

An baches ranft
Die einzigen frühen
Die hasel blühen.
Ein vogel pfeift
In kühler au.
Ein leuchten streift
Erwärmt uns sanft
Und zuckt und bleicht.
Das feld ist brach ∙
Der baum noch grau . .
Blumen streut vielleicht
Der lenz uns nach.

Ich kenne diese Zeilen seit vielen Jahren auswendig, beim Anblick von blühenden Haselnusssträuchern fallen sie mir wie von selbst wieder ein. Auf ein paar Details möchte ich aufmerksam machen: Zu Beginn heißt es nicht „An baches rand“, sondern „An baches ranft“ … „Ranft“ ist präziser und lässt uns schmale Eis- oder Gefrierspuren am Bachrand sehen. „Ranft“ hat dazu noch eine etwas altertümliche Patina und macht aus dem Gesehenen ein Detail im Sepia-Ton. Was aber ist an „Baches ranft“ zu sehen? Es sind „Die einzigen frühen“! Die einzigen, genau, die einzigen Sträucher, die bereits blühen, genauer: „die hasel“ (und eben nicht: „die haselnusssträucher“). „Sträucher“ – das wäre zuviel, zu schwer, zu platt, während „Die hasel“ in seiner verknappten Form die dünnen Zweige sichtbar macht, an denen die Blüten baumeln. Die drei ersten Zeilen skizzieren ein erstes Bild, die zwei darauf folgenden bilden die Intonation. „Ein“ Vogel „pfeift“, ein einziger, keine Scharen oder Völker, kein Gezwitscher, sondern ein „Pfeifen“! Und wo: „In kühler au!“ „Au“ setzt in seinem wiederum altertümlichen Duktus die Sepia-Farbigkeit fort und knüpft daran an. Dann die Mitte des Ganzen, der Höhepunkt, die Ekstase im ganz, ganz Kleinen: „Ein leuchten streift“ … Kein Sonnenstrahl … (auch das wäre bereits zuviel), sondern eine kurze Erhellung! Sie „Erwärmt uns sanft“ (also nur für einen Moment, aber doch immerhin), dann vergeht sie: „Und zuckt und bleicht“ – Punkt. Aus. Zwei minimale Einzelbilder setzen das Lied fort: „Das feld ist brach“ – „Der baum noch grau“ – bis hin zum grandiosen Schluss, dem wunderbar verhaltenen Blick in die Zukunft (die so kommen könnte, aber noch nirgends auch nur zu ahnen ist): „Blumen streut vielleicht“/„Der Lenz uns nach.“ Ein geflüstertes, in jeder Silbe melodisch und rhythmisch vollkommenes Gedicht (man folge nur einmal den Vokalmelodien: Vom mehrfach wiederholten A über das mehrfach wiederholte Ü … etc.), ein Wunder von einem Gedicht! Man sollte es oft vor sich hinsagen (und jede Nuance noch einmal bedenken, sehen, hören), bis man es wirklich für immer auswendig kann! Man sollte sich immer wieder an seine Zeilen erinnern – und in ruhigen Momenten (irgendwo unterwegs) wie in einem Akt der Meditation aus dem Kopf hinschreiben! Man sollte es in Schönschrift auf besonders gutem Papier aufmalen – und dann verschenken – und man sollte (als Krönung) unbedingt die Vertonung dieses Liedes durch Anton von Webern hören (in 5 Lieder, op.3).