Nachhall – Meditation über ein großes Gedicht

Kurze, „große“ Gedichte wie das von Stefan George (01.02.2018) oder Eduard Mörike (06.02.208) sind ideale Binnenworträume für Meditationen, die ihren sprachlichen Nuancen nachgehen. Wo nämlich finden wir sonst in nur wenigen Zeilen eine derart genaue Wortwahl, eine so treffsichere Klanglichkeit und einen unfehlbar erscheinenden Sinn für Rhythmen? Eine lange, geduldige Vertiefung in ein so zerbrechliches Gebilde schärft die Ahnung nicht nur von sprachlicher Eleganz und Schönheit, sondern fördert auch die Wachsamkeit gegenüber dem eigenen Sprechen.

Im Fall von Mörikes „Denk es, o Seele!“ entdeckt die meditierende Annäherung (die man nicht mit „Interpretation“ verwechseln sollte) drei Bilder, die zunächst in all ihrer möglichen Frische und Lebenspräsenz gezeichnet werden: Das Tännlein grünt im Walde, der Rosenstrauch wächst im Garten, und die schwarzen Rösslein tummeln sich in muntern Sprüngen auf einer Weide. Im Verlauf des Gedichts werden diese strahlenden, eingängigen Bilder aber in ihr Gegenteil verkehrt und als Illusionen entlarvt. Das erreichen jene warnenden Rufe, die das Gedicht durchziehen: „Denk es, o Seele!“ ist die erste dieser dunklen, zum Innehalten aufrufenden Warnungen, die zum schweren, beängstigenden Bild des eigenen Grabes hinführen. Das Tännlein und der Rosenstrauch werden dort einmal wurzeln und wachsen – und nicht mehr im Wald, und nicht mehr im Garten. „Wer weiß?“, „Wer sagt?“ – wie absichtslos sind diese kurzen, lakonischen Fragen mitten in die munteren Zeilen des Beginns gestreut, als Vorboten der Wahrheit. Die macht in der zweiten Strophe aus den sich auf der Weide tummelnden Rösslein schwarze, schrittweis gehende Pferde, die die eigene Leiche begleiten. (Wie man als Leser bei diesem Wort zusammenzuckt! Wie die „Leiche“ in härterem Wortklang den des „Grabes“ in der ersten Strophe dramatisiert!) Worauf die letzte, ganz und gar unheimliche Verschärfung des aufkommenden Todesgedankens folgt, im raunenden, mehrfachen „vielleicht“. „Vielleicht“ nämlich sind das alles keine bloßen Gedankenspiele, „vielleicht“ bewahrheitet sich das Bedrohliche dieser sich verschärfenden Dunkelwelten schon „bald“: Morgen, heute, im nächsten Augenblick! (Was für ein Gedicht!)