Wie man Lesen kann

Felix Philipp Ingold hat in der NZZ (17. Februar 2018) über unterschiedliche Formen des Lesens nachgedacht. Lesen kann ein „Überfliegen“ des Textes (diagonal, wie rasches Scannen) sein – dann geht es um erste Orientierungen und flüchtige Kontaktaufnahme mit einem Text. Lesen kann zweitens eine geduldige, lineare Lektüre sein, die dem vorgegebenen Verlauf eines Textes folgt und eine Lesestrecke im Verlauf von einigen Stunden (Tagen/Wochen) zurücklegt. Lesen kann aber auch eine verweilende, einzelne Elemente beobachtende Mikro-Lektüre sein, die bestimmte Stellen (Motive, Stillagen etc.) genauer seziert und zu einer „Diagnose“ von bestimmten Texteigentümlichkeiten führt. Und Lesen kann schließlich ein Wiederlesen sein, das den ersten Lektürevorgang intensiviert, vertieft und zu einer genaueren Kenntnis des Gelesenen beiträgt.

Als letzte Lektüreform nennt Ingold das nomadisierende Lesen, eine Lektüre ohne den Eifer, etwas zu ermitteln oder genau zu durchdringen: „Der lesende Nomade will den Text nicht ‚bewältigen’, will ihn nicht durch tiefgehendes Verstehen ‚ausschöpfen’ oder ‚erledigen’, um dadurch die Herrschaft über ihn zu gewinnen. Vielmehr lässt er sich beim Lesen neugierig und vertrauensvoll gehen, lässt sich überraschen, amüsieren, irritieren, ablenken, verzaubern, in die Irre führen. So streunt er, statt gewissenhaft der vorgegebenen Linearität des Geschriebenen zu folgen, vorzugsweise auf Abwegen durch das Textgefilde, von Verzweigung zu Verzweigung …“

Ich stelle mir vor, wie anders wir lesen würden, wenn das nomadisierende Lesen schon von Kindheit an in Kindergärten und Schulen genau so geübt worden wäre wie das lineare oder interpretierende Lesen. Wie also wäre es, wenn wir gelernt hätten, Protokolle eines solchen Lesens zu schreiben und das Lesen nicht in einem Korsett zu „vollziehen“, sondern seine große Freiheit zu genießen? Von einem solchen Lesen gibt es erstaunlicherweise kaum Zeugnisse – dabei ist es doch das interessanteste Lesen überhaupt: Ein Lesen, das mich in vielen Szenen des Verstehens (oder Nichtverstehens) eine irritierende Bekanntschaft mit einem Text machen lässt. Leider werden die meisten Leserkommentare aber noch immer getrieben vom handelsüblichen Format des rasch urteilenden, flachen Lesens: Einen Text zur Kenntnis nehmen, abstellen, einordnen und ihm ein paar flüchtige Eindrücke hinterher schicken! Wie dürftig das doch ist! Wie schal! Und wie betriebsam und lustlos!