Anekdoten (nach Heinrich von Kleist) 4

Ein bekannter Schweizer Schriftsteller war vor seiner erfolgreichen Schriftstellerkarriere als Werbetexter tätig. In dieser Branche hatte er sich bereits erheblichen Ruhm durch einen Text für ein Bankinstitut erworben, den viele Schweizer auswendig kannten: „Lassen Sie Ihr Geld für sich arbeiten. Sie arbeiten schließlich auch für Ihr Geld.“ Nach der Veröffentlichung dieses markanten Zweisätzers kursierten schon bald in der ganzen Schweiz Varianten, die in den Medien diskutiert und weiter variiert wurden. So gab es die Variante: „Arbeiten Sie nur für Ihr Geld. Schließlich arbeitet auch die Bank nur für sich.“ Oder: „Arbeiten Sie nicht für Geld. Es arbeitet ja auch nicht für Sie.“

Als Schriftsteller versuchte der allmählich bekannter werdende Mann seinen Werbetext durch Romane und Erzählungen zu vergessen, die noch weitaus brillantere Sätze enthalten sollten. Während dieser Arbeit verfolgten ihn aber weiterhin sein berühmter Werbetext und die unzähligen Varianten, die es davon gab. Nachts gingen sie ihm durch den Kopf und verhöhnten sein Schreiben, indem sie den Anschein erweckten, sämtliche Romane und Erzählungen erreichten nicht das Niveau des aus zwei brillanten Sätzen bestehenden Werbetextes. Der trotz dieser Störungen immer berühmter werdende Schriftsteller tat so, als hätte er längst keine Erinnerung mehr an diese Texte, während sie ihm in Wahrheit immer heftiger zusetzten.

Auf der Höhe seines Weltruhms (er war gerade siebzig Jahre alt geworden) wollte er eine Rede in mehreren Sprachen (als Rückblick auf sein schriftstellerisches Schaffen) halten. Er begann stockend und verlor gleich den Faden, während das Publikum irritiert auf seine ersten Sätze wartete. Mit gesenktem Kopf fand der längst auf der ganzen Erde gefeierte Mann endlich hinein in seine Rede und begann: „Lassen Sie Ihr Geld für sich arbeiten. Sie arbeiten schließlich auch für Ihr Geld.“ Dies, sagte er weiter, sei der Ursatz all seines Schreibens gewesen, und all seine Romane und Erzählungen seien letztlich nichts anderes als Varianten dieser beiden Sätze. Worauf er (endlich befreit wirkend) weiter ausholte und seinen verblüfften Zuhörern aus Anlass seines runden Geburtstages Hunderte von Varianten vorstellte, die er in seinen schlaflosen Nächten erfunden und erweitert hatte. Die Rede dauerte Stunden und endete erst, als alle Zuhörer sich vor ihrem Ende aus dem Staub gemacht hatten, um statt des weiteren Zuhörens ihr Geld noch begeisterter und raffinierter für sich arbeiten zu lassen.