Betriebsgespräche – Leipziger Buchmesse 1

Vier Tage Leipziger Buchmesse – der harmlose Besucher schlendert durch die Gänge der Messehallen mit den Verlagskojen, blättert hier und da in einem der neuen Bücher, lauscht einem von einer Fernsehanstalt aufgezeichneten Gespräch zwischen einer Autorin und einer Kritikerin, sammelt Verlagsprospekte und trinkt ab und zu einen Schluck Kaffee oder Tee. Abends beugt er sich über die Kritiken, die in den Literaturbeilagen der überregionalen Tageszeitungen erschienen sind und überfliegt sie, auf der Suche nach Neuerscheinungen, die er in einer Buchhandlung anlesen/kaufen oder in einer Bibliothek ausleihen wird.

Der harmlose Besucher lebt von der Vorstellung, dass Literaturkritiken das geradlinige Denken eines Literaturkritikers abbilden, der sich über die Inhaltsangabe sowie über kurze Ausblicke auf Biografie und Werk eines Autors einen nachvollziehbaren Weg zu einem überzeugenden Urteil bahnt. Solche Literaturkritiken, wie sie in den überregionalen Zeitungen seit Jahrzehnten erscheinen, kommen ihm wie Schulaufsätze von früher vor. Sie präsentieren in abgerundeter Form über die Einleitung (den Aufhänger), den Hauptteil (meist die Inhaltsangabe) bis zum Schluss (der Empfehlung oder Nichtempfehlung eines Titels) einen kleinen Gedankenfaden, knotenfrei und übersichtlich.

Muss das so sein? Könnte es nicht auch andere Formen der Kritik geben? – hat sich ein Literaturkritiker gefragt, der eigentlich kein richtiger Literaturkritiker ist und sich deshalb einen „Gelegenheitskritiker“ nennt. In dieser Rolle ruft er bei diversen Redakteuren von Rundfunkanstalten an, um Aufträge für Rezensionen zu erhalten. Er wählt bestimmte Titel aus und schlägt sie vor. Während der Telefongespräche mit den diversen Redakteuren muss er eine knifflige Überzeugungsarbeit leisten. Meist hat er Glück und erhält den Auftrag, das aber erst, wenn er sich (zusammen mit dem jeweiligen Redakteur) einen Weg durch das Dickicht des Betriebsdenkens gebahnt hat. Was aber ist das – das Betriebsdenken?

Der literarische Betrieb besteht in seinen innersten Kreisen und Zonen aus lauter Autoren, Verlags- und Medienleuten, die mit der „Arbeit am Betriebsdenken“ beschäftigt sind. Diese Arbeit schlägt sich in unendlich vielen Betriebsgesprächen nieder, die in Verlagen und Redaktionen unermüdlich, Tag für Tag, stündlich und minütlich, über die neusten Themen, Titel und die Informationen aus dem Backstagebereich des literarischen Lebens geführt werden.

Autor X hat gerade geheiratet, was nichts Gutes für die Arbeit an seinem dritten Roman verheißt. Schon der angekündigte Titel ist daneben, ganz zu schweigen von seinen Versuchen, die Medien mit Hilfe von knochentrockenen Debattenbeiträgen zu den üblichen „Themen des Tages“ auf sich aufmerksam zu machen. Seine Frau soll er übrigens nach einer Lesung kennen gelernt und dieses banale Motiv bereits im ersten Kapitel seines neuen Romans verarbeitet haben. Kritiker Y von der SZFA ist bereits scharf darauf, ihn zu besprechen, er hasst ja alles, was Autor X von sich gibt, egal was, während Autor X mit den Kritikern Q und R engere Kontakte aufgenommen hat, seine Frau soll angeblich hervorragend kochen und die Rolle der „perfekten Gastgeberin“ perfekt beherrschen, was wiederum Autor Z dazu verleitet hat usw. usw.

Analysiert man das Betriebsgespräch des literarischen Betriebs, so erkennt man rasch, dass es sich aus Klatsch, voreilig geäußerten Meinungen und wild zirkulierenden Gerüchten, aber keinerlei begründeten Urteilen über Bücher und ihre Inhalte zusammensetzt. Diese Mischung ergibt sich aus der Tatsache, dass die wenigsten Gesprächsteilnehmer jene Bücher gelesen haben, die sie unaufhörlich erwähnen oder umkreisen. Die frisch erschienenen Bücher sind also von einem Dickicht von Vorurteilen und Gerüchten umgeben, das in den bekannten Literaturkritiken nirgends auftaucht. Solche Kritiken spielen vielmehr die naive Unschuld vom Lande, schließlich sind sie ja auch für harmlose Leser geschrieben.

Klaus Siblewski ist jener Literaturkritiker, der sich einen „Gelegenheitskritiker“ nennt und dessen Kritiken von den verschiedensten Rundfunkanstalten gesendet werden. In seinem gleichnamigen Buch (Residenz Verlag 2017) versammelt er aber nicht seine Kritiken, sondern die (teilweise saukomischen und abgedrehten) Betriebsgespräche, in die der Gelegenheitskritiker und die von ihm angerufenen Redakteure verwickelt werden. Dem harmlosen Leser, der so etwas liest, gehen plötzlich die Augen auf, denn vor jeder abgerundeten Kritik scheint es das Vorleben einer unsortierten Kritik zu geben, in der aus allerhand krausem, ungeformtem, angedeutetem und nicht verstandenem Aufeinandereinreden erst langsam die Kontur einer möglichen Kritik entsteht. So gesehen ist Siblewskis schlitzohriger, gewitzter und vitaler „Gelegenheitskritiker“ das ideale Buch zur diesjährigen Leipziger Buchmesse.

Der Autor (gemeint ist natürlich jetzt: Klaus Siblewski) liest daraus heute (Donnerstag, 15. März 2018,  20 Uhr) im Fürstenzimmer der Universitätsbibliothek Leipzig/ Biblioteca Albertina. Es geht das Gerücht, dass Siblewski (auch in seiner Rolle als erfahrener Lektor begnadeter Autorinnen und Autoren) im Anschluss an seine Lesungen zu munter geführten Betriebsgesprächen im kleinen Kreis bereit ist. Der harmlose Leser sollte mutig auf ihn zugehen, ihn zu einem Glas Wein einladen und darauf achten, dass der keineswegs harmlose Gelegenheitskritiker mehr als nur ein einziges trinkt …