Meine Freundin K. ist seit dem Erscheinen von Elena Ferrantes Neapel-Tetralogie mit kaum etwas anderem als diesen Büchern beschäftigt. Schon dem ersten Band war sie so verfallen, dass sie alles weitere Leben einstellte, bis sie das Buch gelesen hatte. Das Warten auf den zweiten Band erwies sich als eine Qual, und das Warten auf den dritten und vierten war die Hölle. Kaum eine Lektüre hat meine Freundin in ihrem Leben derart in Atem gehalten und hingerissen wie diese vier Bände. Ihre Ferrante-Faszination hat den ganzen Freundinnen- und Freundeskreis angesteckt, die Bücher wanderten unaufhörlich von der einen zur anderen Leserin, und wenn ich mich mit einem Mitglied dieser Kreise zufällig in der Stadt traf, war von nichts anderem die Rede. Bisher habe ich noch keine einzige Zeile dieser Romane gelesen, ich habe mich zurückgehalten, obwohl mich allein schon die vielen ausgefallenen Kommentare der Leserinnen in meiner Umgebung längst überzeugt hatten, dass ich sie lesen müsse. Unbedingt! Sofort! Und alle vier hintereinander!
Zwischendurch habe ich Filme über das Ferrante-Neapel gesehen, und ich erfuhr nebenbei, dass Hillary Clinton die Lektüre dieser Bücher zu einem der kostbarsten Ereignisse ihres Lebens gezählt hat. Auch der amerikanische Starkritiker James Wood (ausgerechnet, ich schätze seine hypergescheiten Essaybücher sehr) soll schließlich in einer seiner Starkritiken so von den Fähigkeiten dieser Autorin geschwärmt haben, dass ihre Bücher in den USA zu Hunderttausenden verkauft wurden. Mein Interesse konzentrierte sich auf die Interviews, die Elena Ferrante in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften gegeben hat – alles, ohne Ausnahme, hochgradig kluge und nirgends verschwafelte Kommentare dazu, wie ihre Romane entstanden sind. Kein Wort aber zu ihrer Biografie, „Elena Ferrante“ ist ein Pseudonym, die Schriftstellerin dieses Namens möchte unerkannt bleiben, denn ihre Bücher sollen ganz für sich selbst sprechen. (Dass irgendein Journalist inzwischen alles daran gesetzt hat, dieses Geheimnis zu lüften, hat mich nicht weiter beschäftigt, ich habe, als ich von den abstoßenden Methoden und Absichten dieser „Enthüllungen“ erfuhr, nichts davon zur Kenntnis genommen.)
Natürlich ist Elena Ferrante während der diesjährigen Leipziger Buchmesse d a s große Betriebsgesprächsthema (siehe meinen gestrigen Kommentar zum Thema „Betriebsgespräche“). Im Eingangsbereich von Halle 4 versammeln sich ab 10 Uhr täglich die unter dem Ferrante-Fever Leidenden zum Austausch über die Fotoreportage Wo ist Elena Ferrante? des neapolitanischen Fotografen Ottavio Sellitti. Vorläufig kann ich mich nicht intensiver an diesen Suchbewegungen beteiligen, natürlich nicht, ich habe (wie schon gesagt) von den Romanen noch keine Zeile gelesen. Stattdessen habe ich mir aber einen anderen Weg zu diesem zentralen Betriebsgesprächsthema ausgedacht.
Wie wäre es, mit der Lektüre von Ferrantes Debütroman (Lästige Liebe) zu beginnen, der 1994 ins Deutsche übersetzt wurde und kaum Leser fand? Wie wäre es, diesen kaum betretenen Pfad zu begehen, anstatt den nahe liegenden Wegen zu folgen? Die erste deutsche Übersetzung von Lästige Liebe ist allerdings nicht mehr im Handel, Suhrkamp wird den Roman in neuer Übersetzung jedoch bald veröffentlichen. Soll ich so lange warten? Ältere Ausgaben von Lästige Liebe werden (etwa bei Amazon) für um die 100 Euro gehandelt – das ist nichts anderes als unverschämt. Was also bleibet? Die Fernleihe! Ja, ich habe, um nicht länger zu zögern, den Roman Lästige Liebe unverzüglich, sofort, über die Fernleihe einer großen Bibliothek bestellt. In wenigen Tagen werde ich das Buch in Händen halten. Sollte das Ferrante-Fever auch mich infizieren, werde ich wohl bald für die Lektüre sämtlicher Ferrante-Bücher abtauchen müssen. Wie wäre es mit Neapel?