Ferne Liebe

Von 1971 bis 1998 war Elisabeth Borchers Cheflektorin des Suhrkamp-Verlages. Am 3. Juni 1999 beginnt sie mit Aufzeichnungen, in denen sie vor allem auf diese Zeit zurückblicken will. „Kein Pardon soll gegeben werden“, schreibt sie, keine Rücksichten also, sie will Abstand und Zuneigung (zu bestimmten Autoren und Mitgliedern des literarischen Betriebs) ohne Umwege resümieren. Damals, im Juni 1999, lebt sie (ganz deutlich erfahrbar) immer noch mit Herz und Seele im Gehäuse des Verlages, den sie gerade erst ganz verlassen hat. Der Verlag und seine Autoren diktieren die Motive und Themen. Siegfried Unseld (der Großverleger) und Marcel Reich-Ranicki (der Großkritiker) wohnen in der Nähe, sie stecken die Extreme des literarischen Feldes „Suhrkamp“ ab, in dem die Autoren (meist überschätzt, Hochstapler, Wichtigtuer – so sieht die Lyrikerin Borchers das jetzt) irrlichternd herumgeistern.

Meine gestrige Lektüre war zunächst nichts als Neugierde und richtete sich auf die typischen Betriebsinterna. Martin Walser, Max Frisch, Uwe Johnson – abgewinkt, zur Seite geschoben. Marie Luise Kaschnitz – schwierig im Umgang, nicht bereit, sich den kritischen Überlegungen der Lektorin zu stellen oder gar zu unterwerfen. Ich las eine Weile und geriet in tiefste Melancholie. Was für aufgeblasene Welten … – so war das also in diesen Jahren, in denen die genannten Autorennamen noch Götterstatus hatten!

Irgendwann hätte ich aufgehört, mich weiter in diesen Dunkelzonen zu bewegen, die Melancholie hätte mir so zugesetzt, dass ich die Aufzeichnungen von Elisabeth Borchers (die in ihrem Nachlass gefunden und nun veröffentlicht wurden – siehe gestrigen Eintrag) beiseite gelegt hätte. Dann aber veränderten sich Ton, Motive und Themen. Die Verlagsinterna verblassten, die Lyrikerin Elisabeth Borchers befreite sich (unmerklich, unter dem Sog einer Liebesemphase) von ihnen. Plötzlich irrlichterten nicht die vielen Namen, sondern geisterte die Gestalt (oder Figur) eines einzelnen Menschen in diesen knappen Zeilen herum: Wo bist Du? Wann kann ich Dich erreichen? Warum rufst Du nicht an? Wann sehen wir uns wieder? Ich folge Dir in Gedanken und Träumen, und Du ahnst es vielleicht nicht einmal …

Als aus Elisabeth Borchers Aufzeichnungen ein Buch der verfehlten Liebesemphase wurde, habe ich es (bis in die Nacht) zu Ende gelesen. Was macht man, wenn man so etwas gelesen hat? Einen so „andächtigen“, „sehnsüchtigen“, nicht enden wollenden Hymnus auf die eine Liebe, die sich nicht mehr zeigen darf und erst recht nicht vollenden will? Ja, was macht man, wenn einen die Trauer um diese Vergeblichkeit am Ende voll erwischt hat und nicht mehr loslässt?

Ich fuhr durch die die Nacht, stundenlang, wie ich es so gern mache, wenn der Schlaf kein Ausweg mehr ist …