Vor ziemlich langer Zeit war die Karwoche auf dem Land noch eine sehr besondere Woche. Schon am Palmsonntag hatte man Ostern im Blick, wusste aber gleichzeitig, dass die Tage bis dahin sich dehnen würden wie keine anderen des Jahres. Am Montag nach Palmsonntag gingen die Erwachsenen zwar noch zur Arbeit, hörten damit aber früher als sonst auf, weil sie am zweiten Tag der Karwoche bereits endgültig auf Ostern und den sich bis dahin enorm dehnenden Weg fixiert waren. Die meisten aßen auch schon nicht mehr normal, sondern viel weniger, und selbst die mäßig Gläubigen reduzierten den Alkohol dramatisch und tranken statt mindestens zwei Gläsern Bier täglich höchstens ein einziges kleines Gläschen.
Alle, ob gläubig oder nicht, wussten genau, dass sie von diesem Montag an immer weniger und weniger essen und trinken und sich am Karfreitag nur noch von Heringen und Pellkartoffeln ernähren würden (an Alkohol war gar nicht mehr zu denken). Die vielen Gläubigen und die wenigen Ungläubigen hörten allmählich aber auch mit dem Sprechen, Reden und Quasseln auf, das sie sonst doch über alle Maßen liebten und täglich vor allem im Freien betrieben.
Ich erinnere mich noch sehr gut an dieses unheimliche Stiller-und-stiller-Werden, selbst die Vögel stellten allmählich ihren Singsang ein, und spätestens am dritten Tag der Karwoche standen die Kühe so schwer und erstarrt auf den Feldern, als hätten die schleichenden Depressionen sie auch erwischt. Im Radio gab es nur noch schwere Trauermusik zu hören, und wer auf der Straße „lauthals“ lachte, galt schon fast als Atheist.
An die Stelle der sonst üblichen Vergnügungen trat der Kirchenbesuch – und das so reichlich, dass es selbst uns Kindern zuviel wurde. Am Gründonnerstag blieben die spitzenmäßig Gläubigen sogar die ganze Nacht in der Kirche, während am Karfreitag selbst von den mittelmäßig Gläubigen dort einige Stunden verbracht wurden. Spätestens an diesem Tag sollte man an kaum noch etwas anderes denken als an Das Leiden und Sterben unseres Herrn Jesus Christus, das in Form einer langen Erzählung in den Evangelien Station für Station ausgebreitet worden war. Jeder Evangelist hatte eine ganz eigene Version dieser Stationen, wir Kinder lernten aber meist nur einzige kennen, damit die Varianten uns nicht durcheinander brachten.
Die Neugier auf diese Varianten kam in meinem Fall erst mit Vierzehn, also in einem (damals) so genannten „kritischen Alter“, bei Betrachtung eines Gemäldes, das Jesus während seines Einzugs in Jerusalem darstellen sollte. Jesus ritt auf einem Esel in die große Stadt ein … – was mich zum ersten Mal in meinem Leben irritierte. Jesus auf einem Esel?! Musste das wirklich unbedingt sein? War das Ganze nicht zu theatralisch, wo Jesus doch sonst das allzu Theatralische klug gemieden hatte? Erst mit Vierzehn las ich die vier Fassungen der Evangelien vom Einzug Jesu in Jerusalem (Matthäus 21,1-11; Markus 11,1-10; Lukas 19, 28-40; Johannes 12, 12-15) und versuchte, mir ein eigenes Bild von dem zu machen, was in der Karwoche alles passiert sein mochte … (Fortsetzung folgt)