Unter Mirabellenblüten

Ich habe nur wenig (und dann auch nur angelesene) Erfahrung damit, wie Japaner die Kirschblüte erleben. Deshalb habe ich meinen japanischen Freunden (die ja gerade bei mir zu Besuch sind und bei mir übernachten) die Gestaltung der Tage, an denen wir das Mirabellenblütenfest feiern, überlassen. Wir haben heute Morgen mit viel Tee, japanischem und chinesischem, begonnen und nichts Essbares zu uns genommen. Es ist angenehm unkompliziert, nur Tee zu trinken und an nichts sonst zu denken, man trinkt viel mehr Tee als sonst, man trinkt richtig reichlich. Dann unterbricht man den Teegenuss, indem man (aus sehr kleinen Gläsern) etwas standfest Alkoholisches andächtig zu sich nimmt. In unserem Fall war es ein Mirabellenbrand aus der Steiermark, man trinkt aus sehr kleinen Gläsern, damit man das Trinken unter Kontrolle behält und zu jedem Zeitpunkt Auskunft darüber gegen kann, wie viele Gläser man getrunken hat. „Erst 2 dreiviertel Gläschen“, sagt man (und ist glücklich, sich so gut zu erinnern). Man trinkt natürlich nicht an einem Tisch oder in der Nähe eines anderen Möbels, nein, man trinkt, indem man unter den Mirabellenblüten lagert. Alle paar Momente macht einer ein Foto, natürlich nun doch mit einem Smartphone, von tief unten, man vertieft sich in jede einzelne Blüte, dann auch mal in ein Duo oder eine Gruppe von Blüten, man schaut sie so intensiv an, als hätten sie Namen und wollten begrüßt werden. Danach gibt man ihnen in der Tat (spielerisch, alles sehr spielerisch) Namen und stellt fest, dass man die Session durch eine Lektüre beleben sollte. Während jemand etwas vorliest und den anderen zu Gehör bringt, wird kein Alkohol getrunken, das ist das Gute am Vorlesen, es stoppt die Alkoholzufuhr, so dass nun wiederum etwas Tee getrunken werden kann. Dazu werden Mirabellen (in Gin eingelegt, vom Vorjahr) gereicht, sie gelten nicht als alkoholisch, weil die Mirabellen über den Gin dominieren und der Alkohol daher nichts zu sagen oder zu melden hat. Als Gastgeber hatte ich das Vorlesen zu übernehmen. Was lese ich meinen japanischen Freunden denn vor? Neuere deutsche Literatur sollte es sein und um Himmels willen kein Goethe, nichts Klassisches und auf keinen Fall … – ich kürze die Debatte hier ab. In diesem Moment hatte ich sofort die richtige, passende Idee, und so las ich meinen japanischen Freunden (und mir selbst) Ausschnitte aus Mariana Lekys Roman Was man von hier aus sehen kann vor. Ich habe diesen Roman (seit seinem Erscheinen im letzten Sommer) mindestens viermal ganz und x-mal in Fragmenten gelesen, im Grunde kenne ich ihn so gut (und genau), als hätte ich ihn selbst geschrieben. Das Seltsame (ich kann es hier jetzt nicht ausführlich erklären, denn es geht ja gerade eigentlich um ein anderes Thema) ist, dass seine Lektüre einen (jedenfalls mich) auf unerklärliche Weise abgrundtief glücklich macht (ich stehe zu dieser Formel: „abgrundtief“ und „glücklich“, beides und beides zugleich). Ich weiß wirklich (noch nicht), warum das so ist, natürlich habe ich gewisse Vermutungen, aber die haben hier gerade nichts zu suchen. Ich las das erste Kapitel (Weide, Weide) vor, und meine japanischen Freunde waren nicht nur sehr angetan, sondern auch ähnlich begeistert wie ich. „Endlich mal ein deutscher Roman einer jungen Schriftstellerin, in dem ein Okapi, eine Großmutter, ein Dorf und der Westerwald vorkommen“, sagten sie, und ich konnte nur sagen: „Nicht wahr?“. Dann aber sagte eine meiner japanischen Freundinnen, dieser Roman habe außerdem noch etwas eigenartig Altjapanisches, ja, wirklich. Ich wollte über diese Äußerung hinweglächeln, als mir plötzlich, wie sagt man denn?, „siedend heiß wurde“. Der zweite Teil von Mariana Lekys Roman spielt nämlich zwar noch immer in einem Dorf des Westerwaldes, doch die zweite Hauptfigur (neben der Erzählerin) ist nun ein junger buddhistischer Mönch, der in Japan lebt. Hui! – ich erinnerte mich, sagte aber nichts weiter, sondern dankte für die (abgründige) Bemerkung meiner japanischen Freundin (der ich nichts weiter über den Fortgang des Romans verriet), um das Gespräch wieder zu einigen Gläschen Mirabellenbrand aus der Steiermark zurück zu führen. Unter dem großen Sonnensegel ging es dann angeregt weiter mit munteren Gesprächen … Fortsetzung folgt.