Abseits der Mirabellenblüten

Am zweiten Tag des (altjapanisch inspirierten) Mirabellenblütenfestes lagert man nicht mehr unter den blühenden Mirabellenbäumen, sondern entfernt sich zunächst ein paar Schritte, um sich dort aufzuhalten, wohin die Mirabellenblütenblätter geflogen sind und sich in Scharen (auch als Linien oder auf Kreuzungen) niedergelassen haben. So geht man auf Distanz zum großen Blühen und erlebt es in der absterbenden Phase (und damit in jener, in der sich die Blütenblätter von den Bäumen befreien und eigene Pfade und Wege suchen). Nach einigem Lagern und dem Genuss von reichlich Tee und Mirabellenlikör (am zweiten Tag übernimmt der Mirabellenlikör die Rolle des Mirabellenbrands vom ersten Tag) entfernt man sich am späten Mittag zur kleinen Bashô-Wanderung in die Ferne. Traditionell werden Ausschnitte aus den Reisetagebüchern des altjapanischen Wanderdichters (Bashô: Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland) gelesen und damit das Leben unterwegs vergegenwärtigt. Als Pendant zu diesem altjapanischen Text werden später während einer längeren Rast Ausschnitte aus einem Text der jungen japanischen Literatur vorgetragen. Meine Freunde hatten den Roman Die Ladenhüterin der Schriftstellerin Sayaka Murata als Geschenk mitgebracht, der in Japan gerade in aller Munde ist. „Wann findet man schon einmal einen japanischen Roman einer jungen Schriftstellerin, der in einem Convenience Store spielt, dessen Ich-Erzählerin eine Convenience Store-Verkäuferin ist und dessen Autorin lange selbst als Convenience Store-Verkäuferin gearbeitet und Erfahrungen im Umgang mit einem solchen Store und seinen Kunden gesammelt hat?“ Ich war sofort begeistert und freute mich auf meine eigene Lektüre, die mir einen Convenience  Store näher bringen und das japanische Leben bestimmt um einiges erhellen würde. Während unserer nachmittäglichen Wanderung führten wir Bento-Boxen mit uns. Sie haben kleine Trennwände und Kammern, in denen man die Wegzehrung (fein getrennt voneinander, auf mehreren Etagen) unterbringt: Tomaten, Gurken, Birnen, rohes Gemüse aller Art, also frische Kost, die eine längere Wanderung auf ideale Weise begleitet. Kehrt man am frühen Abend zum Ausgangspunkt zurück, neigt sich das Mirabellenblütenfest seinem Ende entgegen. Zum Abschied trinken alle ein Glas (oder mehrere Gläser) eiskaltes Bier, man umarmt, verbeugt und trennt sich und nimmt im ersten Dunkeln die matt leuchtenden Spuren der gefeierten Blütenstreu in Gedanken und Bildern mit nach Hause. Der Gastgeber (in diesem Fall also ich) begibt sich darauf in eine Ruhestellung und lässt die beiden herrlichen Tage ausklingen, indem er Texte liest, Bilder betrachtet oder Musik hört, die einen Anklang an Japan bewahren und bis in die tiefe Nacht noch weiter intensivieren.