Die Nägel der schrägen Vernunft (frei nach Theodor Wiesengrund-Adorno)

Manchmal gerät man ins Stocken und denkt: „Das darf doch nicht wahr sein!“ Häufig ist während eines solchen Erstaunens gleich noch eine zweite Stimme am Werk (die das erste Erstaunen erweitert und ausbaut). Sie gehört einem anderen Menschen, den man in einem solchen Moment als Vertrauten und Zeugen zugleich empfindet: „Das darf doch nicht wahr sein!“ Und, zweitens: „Was hätte Onkel Gisbert wohl dazu gesagt?!“ Onkel Gisbert ist längst nicht mehr am Leben, wir erinnern uns aber urplötzlich an ihn, weil er zu dem, was wir gerade erstaunt betrachten, einen zünftigen, passenden Kommentar abgegeben hätte. Deswegen haben wir Onkel Gisbert ja so geliebt (und deswegen lieben wir ihn noch immer): wegen seiner scharfen, auf den Punkt gebrachten Kommentare zu den überflüssigen Neuerscheinungen der Welt.

Vor kurzem war ich in einem kleinen Ort in einer ländlichen Gegend unterwegs. Die beiden Bäckereien, die es vor einem Jahr noch gab, waren verschwunden, dafür gab es in dieser Tausendseelengemeinde aber urplötzlich zwei Nagelstudios. Ich dachte sofort: „Das darf doch nicht wahr sein!“ Und – zweitens: „Was hätte Theodor Wiesengrund-Adorno wohl dazu gesagt?!“ Während meiner Schul- und Studententage habe ich diesen Philosophen noch erlebt, seine eleganten, bissigen und unverwechselbaren Kommentare zum Überflüssigen auf unserem Planeten habe ich bis heute im Ohr. Ich blickte staunend auf die beiden Nagelstudios – und hörte Theodor Wiesengrund-Adorno, wie er mir (im Stil seiner Minima Moralia) zur Seite sprang und flüsterte:

„Das Überhandnehmen der Nagelstudios in unseren Innenstädten und Shoppingzonen reagiert auf den allgegenwärtigen Schrecken, der sich als Empfindung selbst unter Haut und Nägeln breitmacht. Sich von ihm zu befreien, ist der verquere Impuls jenes Bemühens, für das Kant in der Kritik der Urteilskraft den Begriff des „gefallenen Erhabenen“ bemühte. Wo es früher Herrscherinnen zustand, sich den Luxus des glänzenden Nagels zu bewahren, erscheint dieser in Tagen der Fetischumschuldung als dreiste Anmaßung. Sie wickelt den alltäglichen Schrecken ins Bonbon des Zitats, das die Herrscherinnen endgültig ins Jenseits zu verabschieden sucht. Derart mythische Umschuldung bleibt freilich nicht ungesühnt, denn die dialektisch zuschlagende Aufklärung verleiht jedem einzelnen falschen Nagel banalen Glanz und drückt ihm jenen Stempel misslungener Befriedigung auf, den bereits der mit solchen Phänomenen der Dekadenzausbeutung bestens vertraute Tschaikowsky in seinen kleinen Stücken für Klavier zu vier Händen mit unvergleichlichem Sinn für erstorbenes Pathos in das Reich matten Behagens verwies.“