Vor kurzem wurde ich zu einem mittäglichen Menü ins Essigbrätlein in Nürnberg eingeladen. Meine Begleitung und ich waren die einzigen Gäste, so konnten wir uns den Tisch aussuchen, von dem aus wir die holzgetäfelte, stille Stube überblickten. Ich liebe holzgetäfelte, stille Stuben, und ich mag es, wenn die Menükarte nicht nur übersichtlich ist, sondern mit zwei, maximal drei Menüvorschlägen auskommt.
Am Mittag unseres Besuchs gab es Saibling mit Karotte/ Lauch/ Taube mit Mais/ Meerretticheis mit Apfel – und dazu das jeweils passende, von einer klugen Beraterin vorgeschlagene Glas Wein. Die beiden unsichtbar bleibenden Meisterköche (Andree Köthe & Yves Ollech) waren in Hochform – so dass die mehrstündige Mahlzeit zu einem nicht alltäglichen, sondern sich für lange Zeiten einbrennenden Ereignis wurde. Ich liebe nicht alltägliche, sich für lange Zeiten einbrennende Kochereignisse, und ich liebe sie noch mehr, wenn ich zu ihnen eingeladen werde.
Im Essigbrätlein hat man es für einige Stunden mit dem zu tun, was man „Kochkunst“ nennt. In meinem Verständnis besteht „Kochkunst“ aus vielen jener Elemente, aus denen „Kunst“ ganz grundsätzlich besteht. „Kunst“ ist die Passion und die Sache von Künstlern, die ihr Handwerk verstehen und die handwerkliche Arbeit klug benennen. Im Falle der „Kochkunst“ bilden die exakten Rezepte so etwas wie das Making of (oder die Poetik) des Handwerks. In den Rezepttexten (die zu den frühesten Making of-Texten der Kulturgeschichte überhaupt gehören) sind die Bestandteile der Mahlzeit, deren Zusammensetzung und Zubereitung fixiert. Die Speisen bilden (zusammen mit den Getränken) „das Werk“, auf dessen verschiedene Aromen und Formate das Geschmackserlebnis des Gastes (und damit des Rezipienten) reagiert. Bilden die Rezepte (und die Kommentare der Köche zu ihrem Handwerk) die Grundlagen der „Kunstproduktion“, so antworten darauf die Texte der Restaurantkritiker, die das Geschmackserlebnis im besten Fall so nuanciert wie ein Kunsterlebnis interpretieren.
Schade, dass es kaum Bücher gibt, in denen diese Dreiheit von Produktion (das Kochen und seine Poetik), Werkkomposition (Beschreibung und Analyse der Speisen) und Rezeption (der Genuss und seine Elemente) einmal als ganzes erscheint. So gesehen, sind die Debatten über „Kochkunst“ noch längst nicht auf einem möglichst hohen Niveau: Dann nämlich sprächen Köche und Kritiker an einem Tisch über das gerade komponierte und genossene Werk. Nichts ist öder als der einsame Abschied des Gastes von der holzgetäfelten, stillen Stube, ohne dass es zum Gespräch mit jenen Künstlern gekommen ist, die sich stundenlang scheu in der Küche verschanzt haben.
Im Fall des Essigbrätlein kann man immerhin auf Dokumente zurückgreifen. In der Bibliothek der Köche (SZ-Edition) ist 2008 ein Band über die Kochkunst von Andree Köthe & Yves Ollech erschienen (der darunter leidet, dass die Köche ihre „Kochgeschichte“ nicht selbst mitteilen, zu viele Seiten der schönen Stadt Nürnberg gewidmet und die hoch interessanten Rezepte nicht von den Köchen und Kritikern gleichzeitig interpretiert werden). Und 2012 sowie 2015 sind zwei Bände (Gemüse und Gemüse2) im Tre Torri-Verlag erschienen, die jene Geniestreiche der Gemüse-Kochkunst enthalten, von denen ich einsam zurückbleibender Gast mit Begleitung einmal im Essigbrätlein kosten durfte (ohne leider danach die Gelegenheit zu haben, mit den Meisterköchen über meine Geschmackserlebnisse zu sprechen).