Lange habe ich kein so kluges Buch der Erinnerungen gelesen wie Die Jahre von Annie Ernaux. Die französische Schriftstellerin wurde 1940 geboren und ist in Frankreich dank eines umfangreichen Werks sehr bekannt. Hier in Deutschland ist das noch anders, nur wenige ihrer Werke sind in Übersetzungen erschienen. Die Jahre (in der Bibliothek Suhrkamp 2017, übersetzt von Sonja Finck) hat jedoch in der Kritik viel Aufsehen erregt, und das sehr zurecht.
Annie Ernaux erinnert sich an die prägenden Szenen ihres Lebens und folgt diesen Bildern kontinuierlich. Den Unterschied zu üblichen Autobiographien markiert aber schon die Erzählform in der dritten Person. Die Autorin sieht sich von außen, als eine „Sie“, die Teil viel größerer als nur privater Bewegungen ist. Die „Sie“ agiert daher in den verschiedensten sozialen Rollen: als Mädchen, als Frau, als Studentin, als Liebende – jede dieser Prägungen hat eine intime und zugleich eine kollektive Seite. Die intime ist erzählte Charakteristik des Individuellen, die kollektive erscheint in den Formen des „man“, indem der Blick sich zu den „anderen“ hinwendet: Was tun sie gerade bevorzugt, was essen, trinken, denken sie? Worüber wird gesprochen? Wo treffen sie sich vor allem? So hat die „Sie“ ihre Auftritte in den Galerien des Zeitgeistes und ihrer Strömungen, die bis in jeden Winkel verfolgt werden.
Die Lektüreerfahrung ist stark: Denn schon auf den ersten Seiten geht man als Leser, der viele dieser Zeiträume selbst erlebt hat, ebenfalls auf Distanz zu sich selbst. Ernaux‘ Text löst ähnliche, aber dann doch anders akzentuierte Erinnerungen aus – und „man“ begibt sich auf eine lange Zeitreise: Hin und her schwankend zwischen all dem, was (gleichsam) die inneren privaten Fotoalben enthalten und jenen Bildern, auf denen man ausschließlich in Gruppen, Kreisen, Zirkeln erschien. Dieses Wider- und Gegenspiel macht „ein Leben“ aus, und Annie Ernaux ist eine der ganz wenigen Schriftstellerinnen, die genau dieses Kräfteverhältnis in selbstkritischem Sinn nicht nur beschreibt, sondern glänzend erforscht.