Das Wohnen des Textes

Eine Leserin ist auf meinen Blogeintrag vom 3. Juni 2018 eingegangen und schickt mir mehrere Skizzen, die auf Grund der Lektüre meines Romans Der Typ ist da (Kiepenheuer & Witsch 2017) entstanden sind.

Skizze 1 zeigt die Außenansicht des Miethauses im Kölner Norden, in dem die Dreier-WG junger Frauen wohnt, die den Venezianer Matteo bei sich aufnimmt. Skizze 2 zeigt den Grundriss der Wohnung mit der Anordnung der einzelnen Zimmer und Räume.

Als Autor des Romans nehme ich (anhand von Skizze 1) verblüfft zur Kenntnis, dass es sich bei dem Miethaus um einen schmalen, bereits älteren Bau mit drei Stockwerken und einem Zimmer unter dem Dach handeln soll. Es gibt eine dekorative, wahrscheinlich hölzerne Eingangstür – und jeweils zwei Fenster in jedem Stock (wobei diese Fenstergruppen sich immens unterscheiden). Nebenan steht ein vierstöckiges Haus mit modernen Fenstern und einer Durchfahrt (in einen Hinterhof).

Anhand von Skizze 2 verstehe ich, dass das Nachbarhaus ein Ärztehaus ist und das Miethaus der Dreier-WG auch einen Hinterhof besitzt. Die Zimmer der drei Frauen sind etwa gleich groß, Bad und Küche sind etwas geräumiger. Daneben gibt es noch einen Balkon.

Beide Skizzen vermitteln aber weitaus mehr als bloße Außen- und Innenansichten. Skizze 1 zeigt ein leicht altmodisches, bei Studentinnen aber „angesagtes“ und zugleich etwas „kapriziös“ wirkendes Haus. Skizze 2 belegt, dass die Zuteilung der Räume eine „gerechte Verteilung“ des vorhandenen Raumangebots in der WG-Wohnung anstrebt.

Über diese Skizzen ließe sich lange „philosophieren“. Sie zeigen anschaulich, was eine Leserin den bereits vorhandenen, minimalen „Informationen“ des Romans entnimmt und was sie (frei fantasierend) hinzutut. Auf das Verhältnis von Vorgabe und Fantasien kommt es an, denn in ihm drückt sich aus, wie ein Roman gelesen wird und mit der Hilfe von geleiteten Fantasien an Leben gewinnt.

Auf diese Weise entwickelt die Lektüre „Kulturen“ des Textes, die Mischformen von durch den Autor erfundenen und von der Leserin weiter entwickelten Bildfolgen sind. Die Vorabinformationen des Autors können so detailliert und ausführlich sein, dass sie kaum konkrete Fantasien einer möglichen Leserin erlauben. Sie können aber auch so offen und vage sein, dass die Fantasien den Text „erobern“. Entscheidend ist also: das jeweilige „Mischungsverhältnis“, mit dessen Hilfe sich genauer bestimmen lässt, wie ein Text gelesen wird …