Gestern kam während eines Abendessens mit Freunden das Gespräch noch einmal auf den einhundertfünfzigsten Geburtstag des Dichters Stefan George. Darauf, dass seitdem alle überregionalen Zeitungen oft über mehrere Seiten Artikel, kurze Essays und Berichte über die Festveranstaltungen gebracht haben. Und darauf, welche von Georges Gedichten uns noch gut (und warum?) in Erinnerung sind.
Und „wie aus dem Nichts“ erinnerte ich mich plötzlich an jenes George-Gedicht, das ich schon als Kind (im Alter von höchstens zehn Jahren) zu hören bekommen habe. Und zwar wohl in Köln, und zwar wahrscheinlich während eines Zoobesuchs. Damals hatte ich zum ersten Mal Aras gesehen. Sie wirkten stark exotisch – aber abwesend. Fast regungslos brüteten sie vor sich hin, als gingen weder die Zoobesucher noch ihre Artgenossen sie etwas an. Dabei waren es doch wunderschöne Tiere, die man lange anstarrte, als könnte man ihnen so zumindest ein paar Geheimnisse ihres Daseins entlocken.
Stefan Georges Gedicht „Meine weissen ara/Haben safrangelbe kronen …“ ist ein Tiergedicht, das auch ein Kind Zeile für Zeile verstehen kann. Die Geheimnisse der Aras werden in ihm, ohne dass sie benannt oder befragt werden, so kunstvoll indirekt umkreist, dass ich noch heute aus dem Staunen nicht herauskomme.
Dieses Gedicht ist eines der rarsten der deutschen Sprache, denn es ist (in meinen Augen) „vollkommen“. Ich kenne nur wenige „vollkommene“ Gedichte – es sind solche, in denen ich kein Wort verändern, verbessern, ersetzen oder umstellen würde.
Das Gedicht entzündet sich am kurzen Namen der Tiere: „Ara“ – und spielt mit allen Möglichkeiten der Verkürzung. Und zwar so, dass die Vokale nacheinander (das lagernde „a“, das thronende „o“ und das sitzende „i“) aufleuchten, als rührten sie an die drei gleichzeitigen Bewegungszustände der Tiere. Alle Eile und Richtung werden dadurch aus dem Gedicht genommen (keine aktiven Verben), stattdessen entsteht die besondere Aura dieses tierischen Völkchens aus der Stille, der Ruhe, der Unbeweglichkeit – und dem Rückzug auf sich selbst. Sie sind pures Dasein und in der Ausstellung dieses Purismus „für sich“. Das Gedicht übertrifft diese Bilder, indem es selbst puristisch wird, bis hin zu den Extremen: „ruf“ …, „sang“ …, „schlummern lang“…, „träumen“ …, „von den fernen Dattelbäumen“ … – ohne jede Zeichensetzung, in Kleinschreibung, wie ein Flüstern, ein Hauch … – Kann man Tiere bewundernder in Szene setzen, ohne sie zu domestizieren?
Meine weissen ara haben
Safrangelbe kronen
Hinterm gitter wo sie wohnen
Nicken sie in schlanken ringen
Ohne ruf ohne sang
Schlummern lang
Breiten niemals ihre schwingen –
Meine weissen ara träumen
Von den fernen dattelbäumen.