Tour de France

Die Fahrer der Tour de France legen heute die zwölfte Etappe (175 km) zurück. Es ist eine legendäre und schwierige Strecke, die in 21 Serpentinen hinauf führt nach L’Alpe d’Huez. Wer dort als Erster ankommt, gehört zu den Unsterblichen der Tour, und sein Name wird in eine der Kehren für ewige Zeiten eingetragen.

Die Tour de France ist im Fernsehen eine der seltsamsten Sportübertragungen überhaupt. Man starrt auf die führenden Fahrergruppen, die sich zäh und anscheinend unverändert durch vorbei fliegende Dörfer und Landschaften bewegen, und man blickt  (von oben, aus den Hubschraubern) auf die Bilder des aus der Vogelperspektive hinreißend schönen Landes: Ein Fluss, ein Château, eine Dorfkirche, Weinberge, eine Kathedrale! Und natürlich: All diese dunkelroten, heimelig erscheinenden Dächer, unter denen man lauter Bistros und Brasserien vermutet, mit karierten Tischdecken und Getränken aus der Umgebung!

Tour de France gucken ist also zweierlei: Ein Stream mit unentwegt strampelnden Beinen und eine Wünschelruten-Diashow mit touristischen Highlights. Wohl dem, der beide Präsentationsformen zusammen bekommt! Die meisten Zuschauer schauen ‚den Sport’ (was aber genau macht ihn aus?!), doch es gibt auch welche, die ausschließlich ‚Frankreich von oben’ interessiert. (Lange Zeit war ich selbst so ein Zuschauer.)

Kümmern wir uns heute einmal nur um die zweite Gruppe, literaturverseucht, wie wir nun mal sind! Von oben gesehen, macht das Schauen der Tour de France Lust auf Frankreich und eines der intensivsten Bücher, mit dessen Hilfe man dieses Land in langsamen Suchbewegungen erkunden kann. Jean-Christophe Bailly hat es geschrieben, und es heißt Fremd gewordenes Land. Streifzüge durch Frankreich (Aus dem Französischen von Andreas Riehle. Matthes & Seitz 2017).

Bailly geht es um die Erforschung dessen, was ‚Frankreich’ noch ist und für seine Bewohner bedeutet. Und so fährt und wandert er durch seine Regionen, jede genau abgesteckt und jede nach allen Regeln der äußersten Aufmerksamkeitsspannweiten erkundet: geographisch, gastrosophisch, atmosphärisch, literarisch (im Blick auf die Vorläufer seiner ‚Grand Tour’). Ein so klangvoll (und durch und durch ‚französisch’) geschriebenes Buch über die Liebe zu der Welt, in die man hinein geboren wurde, gibt es kaum ein zweites Mal. Selbst wenn man es im deutschen Zuhause liest, versinkt man in diesen Beschwörungen von Landschaften, Dörfern und intimen Räumen und glaubt, sich rasch aufs Fahrrad (nun ja, versuchen wir es zumindest) schwingen zu müssen, um unsere eigene, von Jean-Christophe Bailly geführte Tour de France zu erleben.