Heute habe ich eine Aufnahme vom Verbier Festival 2016 (in 3sat) gesehen. Daniil Trifonov saß am Flügel, das war der Grund. Er spielte, begleitet von einem Cellisten, und es wäre ein Fest gewesen, hätte Trifonov nicht so merkwürdig ausgesehen. Er trug nämlich eine schwere Brille mit Gott weiß was für großen Gläsern – und außerdem noch einen dezenten Bart. An Brille und Bart war richtig hart gearbeitet worden – anscheinend wollte Trifonov nach Irgendwas aussehen und diesem gewollten Aussehen entsprechen – das Problem war nur, dass er ganz schrecklich aussah. Wie ein frühzeitig gealterter russischer Klavierlehrer aus der Provinz. Oder wie eine Figur aus einem Drama von Tschechow.
„Warum sieht er schon wieder so merkwürdig aus?“ fragte ich A., die das Konzert mit mir verfolgte. – „Tut er das?“ antwortete sie. – „Ja, leider“, sagte ich, „alle paar Wochen sieht er anders aus. Mal mit starkem Bart, fast bis über die Ohren, mal ganz ohne, mal mit großer Brille, mal mit wenig Haaren, sorgfältig gekämmt, mal mit Wuschelkopf.“ – „Er kann sich halt noch nicht entscheiden“, meinte A. – „Er ist aber Siebenundzwanzig“, sagte ich, „da könnte er sich langsam mal entschieden haben.“ – „Unsinn“, antwortete A., „mit Siebenundzwanzig hat man noch Träume.“ – „Auf dem Klavier kann er alles“, sagte ich, „er gehört zu den besten zehn Pianisten der Welt! Aber er kann sich nicht für eine Frisur und einen passenden Bartwuchs entscheiden?! Das ist doch zum Lachen!“ – „Ist es nicht“, antwortete A., „warst Du mit Siebenundzwanzig bereits entschieden? Nein, warst Du nicht! Du trugst die falschen Schuhe, die falschen Hemden und Strickjacken wie aus einer Werbung für Senioren! Du sahst aus wie eine Figur aus einem Stück von Gogol!“ – „Wie bitte?! Wieso denn Gogol? Warum nicht wenigstens Tschechow?“ – „Meinetwegen auch Tschechow!“ – „Tschechow mit Seniorendarstellern für ein Seniorenpublikum?!“ – „Exakt, genau so!“
Ich mag A.s Analysen, obwohl sie gnadenlos sind. Man kommt mit ihnen rasch voran und findet zu den Tiefen der Dinge. Ich schaute das Verbier-Konzert weiter. Daniil Trifonov schämte sich anscheinend für seine Jugend, in der er trotz seines noch jugendlichen Alters bereits alle Stücke der Welt perfekt beherrschte. Deshalb hatte er sich das bescheidene Aussehen eines alten Klavierlehrers aus der russischen Provinz verpasst, der in einem Stück von (immerhin!) Tschechow die Hauptrolle für ein Seniorenpublikum spielte.