In der Ausgabe der ZEIT von dieser Woche (Nr. 34, 16. August 2018) legt der Journalist Thomas Kerstan einen Kanon mit jeweils 25 Titeln für die unterschiedlichsten Bereiche unseres Wissens vor. Damit soll ein gemeinsamer Fundus skizziert werden, der definiere, „was heute von Bedeutung ist und morgen von Bedeutung sein könnte“. Im Bereich „Sprache und Kommunikation“ werden Umberto Ecos Der Name der Rose ebenso empfohlen wie Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer, Erich Kästners Emil und die Detektive oder Alan Alexander Milnes Pu der Bär.
Ich selbst bin gegenüber solchen Versuchen, kanonische Werke festzulegen, sehr skeptisch. Wenn ich mich an meine eigene „Wissensgeschichte“ erinnere, so verlief sie in vielen kurzen Phasen, die von immer anderen Impulsen der Neugierde bestimmt wurden. Ich vergaß rasch, was ich eben noch mit viel Aufwand gelesen hatte, und wandte mich Werken zu, von denen ich einige Wochen zuvor noch nie gehört hatte.
So folgte ich fast ausschließlich meinen eigenen Interessen, kostete hier und da, las mich fest, legte beiseite und begann etwas Bekanntes wieder von vorn. „Bildung“ war kein Prozess, durch den Autoritäten einem „Wissen“ verordneten, sondern ein lebenslanger Lustprozess der autodidaktischen Aneignung von Werken und Themen, die einem zu einem bestimmten Zeitpunkt gefallen und „etwas zu sagen haben“. Mit dem bekannten „Schulwissen“ hatte das überhaupt nichts zu tun, meist begegnete es mir zur falschen Zeit, nämlich zu einem Moment, als ich nicht das geringste Gefallen daran fand oder auf seine Inhalte noch nicht vorbereitet war.
Ein Beispiel: Während meiner Oberstufenjahre in einem humanistischen Gymnasium lasen wir Schüler Homers Odyssee auf Altgriechisch in Auszügen. Der Text war viel zu schwer für uns, und das bruchstückhafte Lesen führte schließlich sogar dazu, dass wir den Überblick verloren und Monate später kaum noch eine Erinnerung an den Text hatten. Wie hieß noch einmal die Nymphe, bei der Odysseus erstaunlich viel Zeit verbracht hatte? Und wie war der Name des besonders gastfreundlichen Volkes, an dessen Küste er als Schiffbrüchiger schließlich gestrandet war?
In den Sommerferien des Jahres 1967 ging ich mit meinem Vater auf Reisen. Auf einem Frachtschiff fuhren wir (als einzige Passagiere an Bord) von Antwerpen aus durch die Meerenge von Gibraltar bis nach Griechenland und Istanbul. An Deck las ich damals Ausschnitte der Odyssee und begriff, dass ich mich zum großen Teil genau auf jenen Strecken befand, die auch Odysseus zurückgelegt haben musste. Plötzlich belebte sich mein Interesse an dem alten Epos, manche Gesänge las ich mehrmals – der emotionale Kontakt zum früher als spröde empfundenen Text war hergestellt und führte zu dem, was ich noch heute für das Wichtigste an einem „Wissensprozess“ halte: Persönliche Aneignung, Notieren von Eindrücken, Wiedergabe dessen, was einen berührt und fasziniert hat. (Mein Buch Die Mittelmeerreise erzählt genau davon …)