Das Glück des Lesens

Die Journalistin Sieglinde Geisel hat mit dem Literaturwissenschaftler Peter von Matt ein langes Interview geführt (im Netz nachzulesen in tell, dem Magazin für Literatur und Zeitgenossenschaft), in dem sie dem genialen Textinterpreten Fragen zum Thema „Lesen“ gestellt hat. Entstanden ist daraus ein packender Monolog, in dem Peter von Matt für seine Versionen der Lektüre wirbt und deren Hintergründe erklärt.

Anders als viele Literaturwissenschaftler, die mit den gängigen Themen (Ein Autor, ein Werk, eine Epoche, ein methodisches Problem etc.) arbeiten, interessieren Peter von Matt Konflikte, die einen Menschen in einer bestimmten Phase seines Lebens zentral (und bis hin zur Selbstaufgabe) beschäftigen können. Will ich wirklich mit Gerda zusammenleben? Wo will ich das tun? Wie unterstützt/stört/zerstört meine berufliche Tätigkeit das mögliche Zusammenleben?  – das wäre ein simples Beispiel (das ich mir selbst ausgedacht habe).

Peter von Matt liest Texte vergleichend auf solche Konflikte hin und untersucht das meist verborgene Wissen, das sie zu solchen Konfliktfragen enthalten. Darüber werden sie gleichsam zu Beratern, die einen Konflikt entwerfen, deuten, umpolen, neu formieren. Der Interpret gerät mit ihnen ins Gespräch, deutet selbst, debattiert, entnimmt ihnen weniger „Strukturen“ als „Lebenscluster“, mit deren Hilfe sich das individuelle Dasein sozial gestaltet. So entstehen ein „Aussehen“ (von Figuren), ein Handeln, ein Verweilen, ein Forcieren des Konflikts, der nun wiederum andere Figuren mit einbezieht und berührt.

Liest man die Bücher des Lebensdeuters Peter von Matt, entdeckt man eine aktuelle und hochgradig reizvolle Form von „Literaturwissenschaft“. Nicht das interpretierende Sich-Abstrampeln in Begriffskäfigen, sondern das nachfragende Sinnieren darüber, was unter den Oberflächen der Aktionen an Konfliktpotential steckt.

Von Matt spricht von dem „Begeisterungszustand“, in den ihn das Lesen oft versetzt. Das Interview mit Sieglinde Geisel vermittelt nicht nur viel davon, sondern hat mich selbst in einen solchen „Begeisterungszustand“ versetzt. Ich las es in einem Café, während ich auf einen Freund wartete. „Hoffentlich verspätet er sich“, dachte ich – und als hätte Peter von Matts Zauber sogar noch über das Interview hinausgewirkt, verspätete mein Freund sich wahrhaftig. „Ist was?“ fragte er, als er meine Erregung spürte. – „Ja, da war gerade was“, antwortete ich, „ich habe eben ein ganz vorzügliches Interview gelesen …“