Viele meiner Bücher habe ich für ein Hörbuch eingelesen. Der Ablauf ist dabei jedes Mal derselbe. Das Schreiben ist abgeschlossen, das Manuskript liegt dem Verlag vor, und es vergeht einige Zeit. Ich selbst bin schon mit einem anderen Text beschäftigt, wenn die Lesetermine in einem Studio anstehen. Drei bis sechs Tage sitze ich in einem schalldichten Raum und lese (bis auf eine kurze Mittagspause) ununterbrochen, sieben Stunden.
Für mich haben diese Lesungen einen großen Reiz. Das Manuskript habe ich schon teilweise vergessen, es erscheint mir zwar noch wie neu, andererseits aber auch bereits „erkaltet“. Mein Blick auf seine Seiten ist ein prüfender, abwägender, und ich achte darauf, ob der Text meine Stimme anzieht – und ob diese Stimme den Text nun wiederum belebt und aufschließt.
Ich lese die vor kurzem geschriebenen Sätze laut, ich höre auf sie, ich horche sie ab – und ich erwecke sie zu einem zweiten, jetzt klanglich-akustischen Dasein. Aus dem stummen Schreiber, der ich bisher war, werde ich zu einem „Sänger“, der den Text intoniert.
Diese Verwandlung ist ein außerordentlich intensives Erlebnis. Der Text wird zum Lied, er wächst in meinen Körper ein – erst jetzt erreicht er all die möglichen Dimensionen, die in ihm stecken: Als spielte ich – wie die Sänger Homers – mein Lied vor den Augen der Festgesellschaft, die nach dem Mahl hören wollen und sehen … (In Homers Odyssee im Achten Gesang, 40ff.)