Krauses Denken

Ich bin Teil einer großen Festgesellschaft und sitze nach den ersten Begrüßungen auf dem für mich bestimmten Platz. Vor mir erkenne ich das kleine Schild, das ohne meinen Nachnamen auskommt. Für die (lange) Dauer des Festmahls bin ich (stelle ich erstaunt fest) wieder „Hanns-Josef“.

„Hanns-Josef“ ist der Junge, den alle anders nannten: Ich war der Hans, der Josef, der Johannes, der Jo, der Hanjo, der Hajo, der Jojo – das Kaleidoskop der Namen erinnert mich an die frühen Zeiten, in denen ich viele, verschiedene Identitäten besaß. Hans war der große, lange Typ, der Basketball spielte, Josef der langsame, verträumte, dem manchmal nicht die richtigen Worte einfielen, Johannes der fromme, der Kirchen und Kirchenmusiken mochte, Jo der verspielte, kindliche, der Drachen steigen ließ, Hanjo der gute Kerl für Tanten und Onkels, Hajo der pubertierende, der Artikel für die Schülerzeitung schrieb – und Jojo ein fremder, leicht unheimlicher Typ, der sich laufend neue Geschichten ausdachte.

So flattert mein krauses Denken, und mein Blick durchwandert das Banner der Speise, die man für mich bereithält: Roulade von der Mehrbachforelle an buntem Salat von Westerwälder Minilinsen mit Bärlauchschmand. Hans hätte die Forelle gemocht, Josef den Salat, Johannes das Westerwäldische, Jo die Minilinsen … – das geht hin und zurück, und ich höre nicht mehr auf die Reden und die Musik, sondern verschwinde im Unterholz der Erinnerungen, bis eine Schar von lauter kichernden „Hanns-Josefs“ durchs herbstliche Land zieht.