Altgriechisch

Altgriechisch war meine zweite Fremdsprache auf dem humanistischen Gymnasium. Es zu lernen, war nicht ganz so reizvoll wie das Latein lernen, weil Altgriechisch auf das Ohr nicht so einfach und schlicht wirkte wie das klare, zugängliche Latein. Hinzu kamen die fremd erscheinenden Buchstaben und viele Sonderzeichen, die oberhalb, neben oder unterhalb der Buchstaben auftraten und aus der Schrift eine kompliziert aussehende Folge seltsamer Hieroglyphen machten. Wir Schüler kamen denn auch nur langsam mit dieser Sprache voran und wechselten nach den ersten zwei Übungsjahren viel zu früh zu den klassischen großen Texten (wie etwa Homers Odyssee), um dann hilflos Wort für Wort zu sezieren und den Text letztlich vor allem durch Übersetzungen ins Deutsche kennen zu lernen.

In meinem neuen Roman (Die Mittelmeerreise) erzähle ich von den kuriosen Momenten, als mein Vater und ich während unserer Schiffsreise im Jahr 1967 in der griechischen Stadt Patras zum ersten Mal an Land gingen. Wir sprachen kein Wort Neugriechisch, und selbst Englisch half nicht – auf den Straßen der Stadt verstand uns niemand. Und so bat mein Vater mich, Altgriechisch zu sprechen und den Anfang der Odyssee zu rezitieren. Ich stellte mich wie ein Schauspieler mitten auf einen Gehweg und deklamierte einige Verse, worauf wirklich das Wunder geschah. Man wurde auf uns aufmerksam und führte uns durch die halbe Stadt zu einer Schule (!), in der Annahme, ich suchte einen Lehrer, der mir helfen würde, meine Sprachkenntnisse zu verbessern …

Heutzutage lese ich wieder altgriechische Texte und habe auch an ihnen (wie an den lateinischen) meine Freude. Angefeuert wurde ich neulich durch ein sehr inspirierendes Buch einer jungen italienischen Gräzistin, die ihrer Begeisterung für das Altgriechische (Andrea Marcolongo: Warum Altgriechisch genial ist. Übersetzung aus dem Italienischen von Andreas Thomsen. Piper Verlag 2018) freien Lauf gelassen hat.

Man muss kein Altgriechisch verstehen, um dieses Buch lesen zu können, und man muss auch sonst kaum etwas über diese Sprache wissen. Andrea Marcolongo skizziert in einem lebendigen, anschaulichen Essay deren Besonderheiten und zeigt, wie eine solche Sprache die Welt auf charakteristische und einzigartige Weise sichtbar macht. Was sehen und verstehen wir vom Leben, indem wir es auf Altgriechisch benennen, erfassen und beschreiben? – das ist die Grundfrage. Auch für Andrea Marcolongo ist eine alte „Sprache“ niemals ein „totes Medium“, sondern eher ein faszinierendes Instrument großer kultureller Projektionen. Ganz nebenbei erfährt man, woher das Altgriechische kommt, wie es aufgebaut ist und welchen Gebrauch die alten Griechen von ihm gemacht haben.

Ohne die Lektüre solcher Bücher fehlen vielen Lesenden von heute wichtige Bausteine des Wissens – und zwar solche, die unser heutiges Wissen erhellen und ihm ein Fundament geben. Diese Fundamente grundieren die Gegenwart und richten sie aus. Zwar muss man nicht unbedingt Altgriechisch lernen, wissen sollte man aber schon, wie diese Sprache unsere heutige Welt entworfen und stark mitgeprägt hat.

Daher mein Vorschlag: Man lese zunächst das Buch von Andrea Marcolongo  – und danach einige altgriechische Texte in guten deutschen Übersetzungen (auf der rechten Seite), begleitet vom altgriechischen Original (auf der linken Seite). Zum Beispiel: 1) Die Vorsokratiker. Griechisch/Deutsch. Hrsg. und übersetzt von Jaap Mansfeld und Oliver Primavesi. Reclam Verlag 2012 – Oder: 2) Wilhelm Busch. Max und Moritz auf Altgriechisch. Griechisch/Deutsch. Übersetzt von Otto Schmied. Reclam Verlag 2008)