Heute bin ich in den herbstlichen Wäldern mit dem japanischen Dichter und Wanderpoeten Saigyô (1118-1190) unterwegs. Gerade sind seine berühmten Gedichte aus der Bergklause (ausgewählt und übersetzt mit Kommentar und Annotationen von Ekkehard May. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 2018) erschienen. Mit zweiundzwanzig Jahren hat er sich aus dem Hofdienst verabschiedet und ein Leben als Einsiedler und Eremit begonnen. Mehrmals ist er zu langen Wanderungen durch Japan aufgebrochen, später hat er zusammen mit anderen Mönchen in einem Kloster gelebt.
Gedichtet hat er zum großen Teil 31-silbige Gedichte, sogenannte waka, von denen er später viele zu einer großen Sammlung (Sankashû) zusammengestellt hat. Sie ist nach den (in Japan stark rituell begangenen) Jahreszeiten gegliedert.
Eines der Gedichte kam mir auf meinen Pfaden heute besonders nah: Keinen Weg gibt’s mehr./Das Haus im gefallenen Laub/fast ganz versunken;/frühzeitig lässt es mich nun/>wintervergraben< schon sein!
Nach mehrmaligem, langsamem Lesen (das Lesen solcher Gedichte ist wie Meditation) folgte ich den (unbedingt notwendigen und hilfreichen) Erläuterungen, die der Japanologe Ekkehard May seinen Übersetzungen beigegeben hat. So erfuhr ich, warum dieses in unseren Augen eindeutige Herbstgedicht für die Japaner ein Wintergedicht ist. Das im Laub versunkene Haus erinnert nämlich bereits an die kalte Jahreszeit, in der das Haus im Schnee versinken könnte. „Wintervergraben“ werden dann all jene leben, die sich in ihre Häuser zurückziehen und sich (wie manche Tiere im Winter) dem Winterschlaf hingeben …
So war ich mit diesem wundervollen (und besonders sorgfältig ausgestatteten) Buch lange auf altjapanische Weise unterwegs. Kurz vor dem Heimkommen murmelte ich noch vor mich hin: Als Andenken an/den Herbst, der nun zu Ende geht,/für eine Weile noch/möcht ich die bunten Blätter sehn -/zerstreu sie nicht, du rauer Wind!