Allerseelen

Von den hohen Bäumen der Zypressenallee wehte der Regen in feinen Schleiern schräg über den Friedhof. Ich hielt einen kleinen Strauß Blumen in der rechten Hand und trug ihn an das Grab. Sie wurden in eine dunkelgrüne Vase gesteckt, dann wurde das Grablicht im Glasgehäuse angezündet. Es regnete heftiger weiter, und uns fehlte (wie immer) ein Schirm.

Anders als sonst suchten wir nicht nur ein einziges Grab, sondern die Gräber aller nahen Verwandten auf. Es wurde ein langer Rundgang. Niemand sprach, und das Schweigen hielt noch an, als wir den Heimweg antraten.

Im Radio lief später das Deutsche Requiem von Johannes Brahms. Vor dem gewaltigen Stück mit seinen donnernden Chören und seinen flehenden Soli hatte ich Angst wie vor kaum einem anderen Stück. Ich rührte mich nicht – und fuhr zusammen, als die Woge sich plötzlich brach: Denn alles Fleisch, es ist wie Gras/ und alle Herrlichkeit des Menschen/ wie des Grases Blumen …