Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadtanzeiger“, S. 4
Meinen alten Freund P rufe ich regelmäßig an, meist, wenn ich aus dubiosen Gründen etwas durcheinander bin. Er meldet sich immer sofort und sagt „Na?“, mehr nicht. Ich rede nicht von meiner Unruhe, sondern erzähle ein wenig: dass ich den Herbstwald mit seinen Farben so irritierend finde, dass ich momentan häufig Aufnahmen des Pianisten Edwin Fischer mit Bachs Präludien und Fugen höre und dass eine Leserin in Würzburg vertraulich zu mir gesagt hat, ich solle sehr bald nach Japan reisen, das werde mir guttun.
P lauscht meinen Worten und kommentiert sie nicht. Er erzählt auch nicht von sich selbst, sondern wartet, bis ich mit meinen nicht gerade sensationellen Meldungen fertig bin. Während ich spreche, werde ich ruhiger. P bringt das durch sein Zuhören hin, gelassen, wie er immer so ist. Meist fragt er nach: Wo genau war ich im Herbstwald? Und wieso höre ich häufig Edwin Fischer? Und welches Japan meinte die Leserin? Wenn ich auf solche Fragen antworte, gewinne ich wieder Boden unter den Füssen. Der Herbstwald, Edwin Fischer und Japan – sind das nicht bedenkenswerte Themen, aller Vertiefungen wert?
Schließlich steigt P auch selbst ein und spricht von der Zukunft: Wollen wir morgen mit dem Rad durch die Gegend fahren? Oder wollen wir schwimmen gehen? Oder wollen wir wieder mal kegeln, in dem alten Keglerheim, in dem sonst niemand mehr kegelt?
Wer ist P eigentlich? Manchmal redet er wie ein älterer Lehrer, der mich vor Jahrzehnten einmal unterrichtete und seinen Schüler noch weiter durchs Leben begleitet. Andere Male spricht er aber auch so, als wäre er mein Schatten, mein Gegenüber, mein Bruder. Und vielleicht ist er das auch, vielleicht ist er genau das. Seine therapeutische Präsenz in meinem Dasein erscheint mir oft wie ein Geschenk, über das ich jedoch nicht allzu lange nachdenke. Ich sollte mich einfach nur freuen, dass er immer an meiner Seite ist. Heute hat er Geburtstag. Diesmal werde ich ihn anrufen und sagen: „Na?“