Herr F feiert im Januar seinen sechzigsten Geburtstag und wird aus diesem Anlass mit einem Teil seiner Familie nach Venedig fahren. Seine fünf Kinder haben sich als Weihnachtsgeschenk ein kurioses Buchpaket ausgedacht, das ausschließlich aus Büchern des in Venedig vernarrten Schriftstellers Ortheil besteht.
Als Einführung dient Venedig. Eine Verführung (Insel-Tb) und damit ein langer (sogenannte „Sehenswürdigkeiten“ weitgehend außer Acht lassender) Streifzug durch die Lagunenstadt. Ihre Anlage, ihre Atmosphären, ihre eher verborgenen Terrains spielen die Hauptrolle, bis hin zu den lang gestreckten Zonen der Lidi, auf denen man mit dem Fahrrad unterwegs sein könnte.
Über die Besonderheiten der venezianischen Küche hat O das Nachwort zu dem wunderbaren Rezeptbuch der bekanntesten Cicchetti-Herstellerin von Venedig geschrieben. Sie heißt Alessandra de Respinis und ist die Wirtin der Weinstube Al bottegon, in der sie seit über vierzig Jahren vorn am Eingang kleine, oft geröstete Weißbrotscheiben mit winzigen Delikatessen belegt. Sie werden zu einem Glas Wein gereicht und heißen Cicchetti – was dem Buch seinen Titel gegeben hat: Cicchettario (DVB Mainz 2017).
Der Basilika von San Marco (und damit den Schönheiten eines einzigen Bauwerks) hat sich der französische Schriftsteller Michel Butor (1926-2016) mit unglaublicher Sorgfalt und Genauigkeit gewidmet (Beschreibung von San Marco. DVB 2018). Dabei dominiert kein kunsthistorisches Interesse, sondern das Staunen eines Literaten, der die Bilder und Mosaiken von San Marco langsam entziffert und daraus eine große Erzählung über das venezianische Empfinden und Denken macht. In seinem Nachwort porträtiert der Schriftsteller O Michel Butors Philosophie als den Versuch, Bilder und Worte auf ungewöhnliche Weise zueinander in Beziehung zu setzen.
Der amerikanische Schriftsteller Henry James schließlich war Venedig ebenfalls verfallen. Über seine Aufenthalte hat er mehrere hoch elegante Essays geschrieben, und viele seiner Romane und Erzählungen spielen an Orten, an denen er in Venedig gelebt hat und die er genau kannte. Der Schriftsteller O hat ihn an diese Orte begleitet und ist den (tatsächlich erheblichen) Geheimnissen seiner Aufenthalte (im wörtlichen Sinne) nachgegangen (Henry James: In Venedig. Begleitet von Hanns-Josef Ortheil. DVB Mainz 2016).
Und zuletzt: Venedig war bis zum späten achtzehnten Jahrhundert eine der Hochburgen italienischer Malerei. Genau in diese Spätphase versetzt ein Roman des Schriftstellers O (Im Licht der Lagune), der vom Leben eines jungen Mannes erzählt, der in der Lagune aufgefunden wird, sich nicht an seine Vergangenheit erinnert und schließlich als einer der größten Zeichner und Maler der Stadt bekannt wird. Wer aber ist er wirklich, welche Katastrophen liegen hinter ihm? Der Roman ist einerseits ein großes Sittengemälde und andererseits eine Studie des Sehens und Beobachtens in einer Stadt, die das Verschwinden, Verdunkeln und die damit verbundenen Täuschungen aus guten Gründen kultiviert hat.
Fünf Bücher von Hanns-Josef Ortheil also, die sich eng aufeinander beziehen und ein Panorama entwerfen: Die Stadtführung, die Geschichte der venezianischen Küche, das Studium von San Marco, die Begleitung von Henry James und ein Roman, der von Venedigs später Lebensphase in Form eines Künstlerromans erzählt.