Liebe P, Du weißt, wie gerne ich Gedichten lausche, vorgetragen von guten Sprecherinnen und Sprechern. Hörbücher mag ich sehr, sie sind ein Segen – häufig setze ich sie abends ein und höre ein oder zwei Gedichte mehrmals. Für einen Prosaschriftsteller ist es gut, solche konzentrierten Sachen zu kennen, der Lyrik gilt seit ewigen Zeiten mein größter Respekt, und wenn es mir schon nicht gelingt, ein einziges Gedicht zu schreiben, so kenne ich doch wenigstens viele auswendig und betrachte sie von daher als Teil meines eigenen Sprechens.
Seit einiger Zeit ist „The Poet’s Collection“ englischsprachiger Lyrik (im Originalton der Dichterinnen und Dichter samt deutscher Übersetzung) mein größtes Vergnügen. Fast zweihundert Gedichte auf dreizehn CDs – das macht beinahe fünfzehn Stunden Laufzeit. Es ist eine wunderbare Sammlung, und jedes Mal, wenn ich ein gutes Gedicht gehört habe, möchte ich den eigenen Griffel hinschmeißen und selber ein paar Zeilen dichten. Gut, dass ich es nicht tue, es würde grausam enden. Und so belasse ich es dabei, zu spüren und zu erleben, dass große Dichtung die weiten Räume unseres Vokabulars absteckt und vorgibt, auf welch kleinen Pfaden wir Prosahelden uns dann bewegen.
Gestern hörte ich Hemingway dichten, eine Prosanatur durch und durch. 1944 hat er – als Kriegsreporter in Deutschland und Frankreich in gefährlichem Einsatz – mehrere Monate lang (u.a. in der Eifel und schließlich in Paris) an einem Langgedicht gearbeitet, schubweise und in Reaktion auf das Grauenvolle um ihn herum. Es ist wie ein Brief, geschrieben an Mary Welsh, die Frau, die er damals liebt und nach dem Krieg heiraten wird. Ich hörte Hemingways verwundetes Sprechen wie von einem fernen Planeten – er lässt das Lyrische unmittelbar aus der Prosa entstehen: durch den Briefcharakter, durch Techniken des Selbstgesprächs und mit den Mitteln der verblüffenden Repetition (Litanei).
Wäre das eine Lösung? Nein, dieser Weg ist nichts für mich. Vorerst lausche und höre ich weiter und weiter – und empfehle Dir, liebe P, es genauso zu tun. Gedichte hören im Advent – das findet zusammen, glaub mir. Dein O