Wie oft habe ich bisher J.D.Salingers Roman Der Fänger im Roggen gelesen? Er ist in meinem Geburtsjahr (1951) erschienen, doch er ist noch heute vollkommen frisch und gegenwartsnah. In meinem Buch Die Mittelmeerreise (2018) spielt er eine versteckte, bedeutende Rolle, ist doch der Ich-Erzähler von Salingers Roman genauso alt wie der junge Erzähler in meinem (der auf diese Altersgleichheit und ihre Folgen mehrfach anspielt).
Außer dem Fänger im Roggen habe ich auch alle weiteren Veröffentlichungen Salingers zu seinen Lebzeiten gelesen. Ich war süchtig nach seinen Figuren und nach der merkwürdigen Feierlichkeit, mit der sie aus kleinen Alltagsmomenten starke Augenblicke machten. Die letzte, von Salinger veröffentlichte Erzählung erschien 1965, danach zog er sich zurück.
Von Salingers Sohn Matt ist nun zu erfahren, dass sein Vater bis zu seinem Tod im Jahr 2010 kontinuierlich weitergeschrieben habe. Es gab also anscheinend ein fast vierzigjähriges Schreiben, das der Öffentlichkeit vorenthalten wurde, durchaus aber für einen späteren Druck bestimmt war.
Vergleichbares kenne ich nicht. Die Isolation hatte in Salingers Fall wohl den Sinn, das Schreiben gegenüber allen möglichen Einmischungen „pur“ und ungestört zu erhalten. Von außen sollte nichts in den geschlossenen Kosmos des Hauses eingreifen, in dem Salinger, abgeschottet von der Umwelt, seine letzten Jahrzehnte verbrachte. Jede Teilhabe an seinen Texten (etwa durch Kommentar und Kritik) war daher ausgeschlossen. Das Schreiben blieb so ganz „bei sich“, reiner Impuls des Selbst.
Von heute (und damit vom digitalen Zeitalter) aus betrachtet, erscheint eine solche Entscheidung wie eine Provokation. Angesagt ist nämlich jetzt, dass Autorinnen und Autoren unendlich viele Stimmen und Reaktionen auf einen Text einholen, der gerade im Entstehen ist. Im schlimmsten Fall trägt das dazu bei, dass solche „Vorlektorate“ zu ungewollten Selbstblockaden der Schreibenden führen. Genau das wollte Salinger vermeiden. Er schrieb und schrieb in seinen letzten fast vierzig Jahren ohne „Gutachter“, um einer späteren Leserschaft jene Texte anvertrauen zu können, denen er alle Kommentare zu Lebzeiten erspart hatte.
Matt kümmert sich nun zusammen mit Salingers Witwe um die Veröffentlichung des gesamten Nachlasses. Bald sollen die ersten Texte erscheinen…