Das schöne Altern des Archivs

(Heute auch als Kolumne im Kölner Stadt-Anzeiger, S.4)

Mein Patenkind (weiblich, 13 Jahre) hat mich nach Hause eingeladen, damit ich sein aufgeräumtes Zimmer bewundere. Seit einiger Zeit schaut es eine Netflix-Serie, in der Marie Kondo, eine japanische Meisterin der Raumentleerung, das Sagen hat. Die Folgen spielen in den USA und exerzieren jeweils ein einfaches Drama durch: Marie Kondo betritt eine Wohnung, schaut in jede Ritze und empfiehlt den Bewohnern, alles zu entfernen, was „keine Freude macht“.

Die Empfehlung ist hart. Einige Klienten klammern sich an alte Stofftiere, die nicht mehr so richtig als Freudenspender taugen, andere werfen prüfende Blicke auf ihren Partner, ob der denn noch… Alles Überflüssige muss raus, ist die Devise von Frau Kondo, deren geheimes Leitbild kleine Wohnräume auf altjapanischen Bildrollen sind. Nur wenige Gegenstände waren in diesen Räumen erlaubt, man saß meist auf dem Boden und reichte sich Tee, und die Unterhaltung verlief über Haikus, die als lyrisches Genre der spirituelle Gipfel des „Aufräumens“ sind.

Ich gebe zu, dass ich mich an den Anblick des Patenkindzimmers nur schwer gewöhnen kann. Früher lagen dort die gerade gelesenen Bücher und Zeitschriften herum, es roch nach interessanten Teesorten und allerhand Verbotenem. Mein Patenkind spricht vom „Glück“, das Aufräumen mache, vom Gefühl der Befreiung und von der Vision eines einfachen Daseins. Die Zahl seiner Facebook-Freunde hat es gleich mit reduziert, und seit neustem wird eine ganze Woche dieselbe Kleidung getragen, einschließlich Frisur und Makeup.

Als Anhänger des Archivierens hänge ich jedoch an der allmählichen Vermehrung der Gegenstände um mich herum. Ich kann ihr Altern durchaus genießen, und ich hole sie manchmal hervor, um mit ihrer Hilfe die Vergangenheit zu beleben. Mein Patenkind hält das für „falsche Nostalgie“. „Du solltest lernen, Dich von allem zu trennen, das Staub ansetzt“, sagt es ernst, und ich denke darüber auf dem Nachhauseweg nach. Ich werde neue Putzmittel kaufen, einen Extrem-Putztag von vielen Stunden einrichten und die alten Ladenhüter in meinen Zimmern abstauben und auf Hochglanz polieren. Das ist die Lösung! sage ich mir und entwerfe im Kopf gleich eine neue Netflix-Serie: Archivieren präsentieren!