Carnevale veneziano

Vor wenigen Minuten habe ich mit unserer venezianischen Korrespondentin telefoniert. Hier ein gekürztes Protokoll:

O.: Wo bist Du?

M.: In der Nähe der Via Garibaldi im Sestiere Castello. Gegen 14 Uhr beginnt dort der große Umzug der Gruppen.

O.: Der Carnevale geht in die zweite Woche?

M.: Richtig. Am vergangenen Samstag hat er im Sestiere Canareggio begonnen. Mit einer Parade auf den Kanälen.

O.:  Wie sieht so etwas aus?

M.: Zauberhaft. Auf dem Wasser bewegen sich Gondeln und Barken mit Artisten und Akrobaten. Sie lassen das Wasser vergessen. Als bewegten sie sich auf sicheren Wegen und Straßen. Und als wäre das Wasser nichts anderes als eine glitzernde Bühnenfläche, wie geschaffen für ihre Auftritte. Zu beiden Seiten der Kanäle stehen die Zuschauer, dicht gedrängt, auf Distanz, sie erleben den Durchzug der maskierten Gestalten, als kämen diese Figuren von weither und tauchten nur kurz aus den Fluten auf, um darauf wieder in den Tiefen zu verschwinden.

O.: Ein Spiel mit dem Venedig-Mythos…

M.: Exakt. Bunte Theatralik mit langer Tradition und unendlich vielen Anspielungen auf die venezianische Geschichte. Der Carnevale ist schließlich uralt und wurde schon im frühen Mittelalter zelebriert. Der Sieg der Venezianer über die Erzrivalen von Aquileia spielte die Hauptrolle. Damit sicherte sich Venedig die Vormachtstellung in der Lagunen- und weiteren Küstenregion.

O.: Bist Du verkleidet?

M.: Natürlich. Alle meine venezianischen Freunde kommen verkleidet und haben ihre Kostüme selbst entworfen und hergestellt. Ich bin eine Gondoliera, ein weiblicher Gondoliere, von denen es viel mehr als bisher geben sollte.

O.: Wie lange dauert der heutige Umzug?

M.: Bis in den späten Nachmittag. Dann ziehen alle in die nächste Bar, und es gibt frische Frittelle. Sie sehen ein wenig aus wie unsere Krapfen im Rheinland, sind aber schmaler, leichter, kompakter, und meistens nicht gefüllt. Es gibt aber auch gefüllte Varianten, die mit Zabaione mag ich am liebsten.

O.: Und weiter? Wo verbringst Du den Abend, die Nacht?

M.: Abends und nachts feiern die Venezianer in ihren Palazzi. Viele Freunde und Gäste werden eingeladen, es kommen Hunderte von Menschen. Man tanzt und macht Musik, aber alles in sehr traditionellem Rahmen. Auch Theaterspielen gehört dazu. Alles hat einen Bezug zu Venedig, zu seiner Literatur, seinen Gestalten, zur Commedia dell’arte. Die Gegenwart spielt so gut wie keine Rolle.

O.: Und morgen?

M.: Morgen ab 11 Uhr gibt es den dritten Höhepunkt. Den „Engelsflug“ von der Spitze des Campanile an einem Seil hinüber zum Dogenpalast. Auch das ist pure Akrobatik und geht auf alte Quellen zurück. Es handelte sich um eine Zeremonie zu Ehren des Dogen. Früher stieg der Seiltänzer vom Becken des Bacino bis zum Campanile auf, vollführte dort einige Kunststücke, glitt hinab zum Dogen, überreichte ihm Blumen – und hangelte sich wieder hinauf zum Turm des Campanile, um über das zweite Seil wieder im Bacino zu verschwinden.

O.: Also wieder ein Spiel mit dem Venedig-Mythos: Das Auftauchen aus dem Wasser, der Flug in die alles beherrschende Höhe, die Besiegelung von Macht und Herrschaft im Angesicht des Dogen und das Verschwinden in den Tiefen des Wassers.

M.: Richtig. Aber wie schade, dass Du nicht da bist!

O.: Das kannst Du laut sagen.

M.: Wie lange dauert Deine Klausur denn noch an?

O.: Ach, lassen wir das, es ist zum Verrücktwerden. Ich schreibe und schreibe, ich bin ein Idiot…

M.: Ich schicke Dir mein Rezept für Frittelle veneziane, okay? Und Du versprichst mir, wenigstens eine kurze Pause zu machen und das Rezept in die Tat umzusetzen!

O.: Versprochen!

M.: Als Appetitanregung schicke ich schon mal ein Foto! Bis bald, mein Lieber!