Literarischer Frühling 2

Ich beginne mit meinen Frühlingslisten – und zwar (wie gestern angekündigt) so, dass ich einige erste Titel nenne, die ich auf jeden Fall lesen oder zumindest anlesen werde. Dabei werde ich begründen, warum ich ausgerechnet diese Titel ausgewählt habe. Erkennbar werden sollte die „schriftstellerische Auswahlperspektive“: sie verbindet die Neuerscheinung mit eigenen Interessen und Themen.

  1. Über kein Buch wird in meinem Freundeskreis gegenwärtig so viel gesprochen wie über Kenah Cusanits Roman Babel (Carl Hanser Verlag). Erzählt wird die Geschichte des deutschen Ärchäologen Robert Koldewey, der sich noch vor dem Ersten Weltkrieg an die Arbeit macht, das alte Babylon auszugraben. Babel ist also ein historischer Roman, der die Figur des kauzigen Ausgräbers in den Mittelpunkt stellt.

Ich habe eine Schwäche für historische Romane (und selbst bereits drei geschrieben). An Kenah Cusanits Buch interessiert mich, wie sie mit den Mitteln der Gattung umgeht. Erzählt sie von heute aus, oder bleibt sie in der Vergangenheit, dicht an der Figur? Und wie implantiert sie das reiche historische Wissen (über Babylon, Archäologie oder Zeitgeschichte), das sie sich vor dem Schreiben angeeignet hat?

  1. Der Roman La place von Annie Ernaux ist bereits 1984 in Frankreich erschienen. Jetzt hat Suhrkamp die deutsche Übersetzung veröffentlicht. Ernaux erzählt in ihm die Geschichte ihres Vaters, der lange Zeit Landwirt und später ein Lebensmittelhändler in der Normandie war. Einerseits wird die Lebensgeschichte dieses Mannes bis zu seinem Todesjahr (1967) skizziert, andererseits aber auch mit einem Blick von außen untersucht: Was „bedeutet“ es für die Tochter, an der Seite dieses Vaters aufzuwachsen? Wie entwickelt sich ihre Beziehung, als sie selbst auf eine höhere Schule geht und den gesellschaftlichen Aufstieg sucht?

Mein Vater war auch für mich eine zentrale Gestalt meines Lebens. Gleich mehrfach habe ich von ihm erzählt. Auch er kam aus einer Bauernfamilie und studierte als einziges von elf Kindern an einer deutschen Universität. Habe ich mir diesen Sprung je bewusstgemacht? Warum habe ich ausführlich von ihm erzählt, ihn aber nie als „soziale Figur“ gesehen und porträtiert? Ich werde das schmale Buch von Annie Ernaux lesen, um diese Fragen (auf dem Umweg über die Lektüre, für mich) zu beantworten.

  1. Michel Serres ist einer meiner französischen Lieblingsautoren. Seine großen Studien über den Parasiten oder die Geschichte der fünf Sinne habe ich mit Begeisterung gelesen. Bald wird er neunzig Jahre alt und hat ein Buch geschrieben, das auf den ersten Blick in das Genre der „Weisheitslehren“ gehört. In Form solcher Lehren haben sich (seit frühster Zeit, seit den Tagen des Alten Ägypten) Männer in hohem Alter an ihre viel jüngeren Nachkommen gewandt, um ihnen die grundlegenden Einsichten ihres Lebens zu vermitteln. Auch Serres spricht zur Jugend, aber er tut es nicht aus der Distanz oder von oben herab. In Was genau war früher besser? (Edition Suhrkamp) will er in Form eines „optimistischen Wutanfalls“ alten Vorurteilen begegnen. War früher wirklich alles besser? Und welchen Fantasien sitzt man auf, wenn man so etwas behauptet?

Ich mag wütende Männer in hohem Alter – schon deshalb, weil ich wahrscheinlich nie einer sein werde, in späteren Jahren aber vielleicht gerne einer sein würde. Wut, Zorn, Rage – bisher habe ich das nicht drauf. Da könnte die Serres-Lektüre helfen, die Emotionen zumindest einmal kurzfristig zum Kochen zu bringen. Mal sehen, ob sie mich ansteckt …