Kreative Verortung 2

„Kreative Verortung“ lässt sich nicht nur dort erkennen, wo im weitesten Sinn künstlerische Prozesse geplant und organisiert werden. Häufig findet man sie auch dort, wo einzelne Personen ein von ihnen erfundenes und auf sie zugeschnittenes „Lebensprojekt“ entwerfen, um das ihr gesamtes Leben kreist.

Vor einigen Tagen habe ich ein solches Projekt am Fall des Freikletterers Alexander Honnold studiert. Er ist die zentrale Figur in dem (gerade mit dem „Oscar“ prämierten) Dokumentarfilm Free Solo von Jimmy Chin und Elisabeth Chai Vasarhelyi. Honnold hatte es sich seit Jahren zum Ziel gesetzt, den fast tausend Meter hohen Granitfelsen El Capitan eines kalifornischen National Parks ohne technische Hilfsmittel zu besteigen.

Die ersten Schritte zu diesem Versuch führten zu einem intensiven Kennenlernen des Objekts. Zusammen mit befreundeten Bergsteigern geht Honnold den Schrecken erregenden, gigantischen Felsen immer wieder von neuem an und entwickelt auf Grund vieler Anläufe (noch mit Haken und Seilen) die ideale Route des Aufstiegs. Die gewaltigen Wände des Massivs mit ihren Vorsprüngen, Rissen und glasglatten Partien werden Zentimeter für Zentimeter „abgeklopft“, bis Honnold für jeden Schritt die passende Griffhaltung der Finger und Hände sowie die Position der Füße bestimmt hat.

So verläuft seine Auseinandersetzung mit dem widerständigen Material, in das er seine „Spur“, die des Aufstiegs in Etappen, einzeichnet. Schließlich hat er in seine Notizhefte den gesamten Weg Schritt für Schritt notiert und kennt ihn so genau, dass er ihn (wie ein Gedicht) auswendig rezitieren kann.

Die eigentliche Besteigung scheitert beim ersten Versuch, Honnold bricht ab, weil die inspirativen Momente nicht stimmen. Seine mentale Fixierung ist nicht stark genug, er ist abgelenkt und spürt, dass er nicht voll und ganz auf den Klettervorgang konzentriert ist.

Dann der zweite Versuch: Unglaublich, wie er, ohne jemals zu zögern, den eigenen „Entwurf“ abruft und beinahe triumphierend leicht die schwierigsten Passagen bewältigt. Zweimal entlockt ihm die eigene Genialität ein Lächeln darüber, wie „schön“ und überraschend „sicher“ der noch nie dagewesene Versuch sich darstellt. Es ist ein Lächeln über die bezwungene Todesgefahr, das den befreundeten Beobachtern unterdessen Tränen in die Augen treibt.

Auf dem Gipfel angekommen, stammelt Honnold die bestätigenden Formeln der gelungenen „Kreativen Verortung“: Ja, ich bin angekommen, ja, ich bin da, ja, ich bin glücklich! Das Material seines künstlerischen Entwurfs ist unter seinen Händen und Füssen zu einem ästhetisch bearbeiteten Kunstobjekt geworden, das vom Tag der Besteigung an nun eingeschrieben und eingraviert ist in die Geschichte menschlichen Agierens und Handelns.