Begegnung mit einem Kind

Der amerikanische Schriftsteller John Updike (1932-2009) ist erst neun Jahre alt, als ihn seine Mutter auf der Veranda des Großelternhauses in Shillington/Pennsylvania fotografiert. Er sitzt auf den Stufen draußen in der Sonne und hält ein Buch in den Händen. Die Schuhe sind geschnürt, die kurze Hose und eine Jacke lassen den Bub aussehen wie einen kleinen Gelehrten in der Sommerfrische. Die Haare fein gekämmt, eine mächtige Strähne ziert die Stirn.

John war ein Einzelkind, und man sieht der Fotografie an, wie viel besondere Liebe dem Jungen entgegengebracht wird. Anscheinend hat er die Mutter bereits auf irgendeine Weise beeindruckt, sonst würde sie ihm nicht diese konzentrierte Art von Aufmerksamkeit widmen. Eine Aura von frischem Aufbruch und Erwartung umgibt diese Fotografie, sie ist so stark, dass ich mich sofort an ähnliche Kindertage erinnere, als ich für die eigene Mutter ein Motiv oder sogar ein Thema war.

Der alte John Updike hat dieses Foto irgendwann wiederentdeckt und es so ernst genommen, als wäre es die Fotografie einer bedeutenden Fotografin. Er hat es lange betrachtet und dann Detail für Detail beschrieben. Foto und Text markieren einen der Höhepunkte seiner wunderbaren Schriften Über Kunst (1979-2008), die gerade (herausgegeben, aus dem Amerikanischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Antje Korsmeier) im Piet Meyer Verlag erschienen sind.

Seit einigen Wochen lese ich in diesem Band einen Updike-Text nach dem andern. Hat ein Schriftsteller je genauer, liebevoller und emphatischer über einzelne Kunstwerke geschrieben? Und hat es je mehr Freude gemacht, vor großen Bildern in Gemeinschaft eines Begleiters zu verweilen, der sie nicht zutextet, sondern sie mit Hilfe seiner immensen Sehkraft zum Leuchten bringt?