Unter Wasser

(Heute auch als Kolumne im Kölner Stadt-Anzeiger, S. 4)

Matti geht zwei- bis dreimal in der Woche ins Thermalbad. Um dort abzutauchen, benötigt er eine schmale Saugnapfbrille mit 100 % UV-Schutz, eine Nasenklammer und Ohrenstöpsel. Diese Trias ist ideal für Mattis kontemplative Übungen, um derentwillen er überhaupt schwimmen geht. Er will weder Sport noch sonst etwas Gesundes, sondern sucht Konzentration, Stille und Welten, in denen es anders zugeht als sonst.

Am Beckenrand taucht er unter Wasser und verweilt einige Zeit. Was ist los? In geringer Entfernung treiben die kopflosen Leiber der Badenden, zeitlupenhaft langsam. Die Beine schlagen aus, die Füße wippen auf dem hellen Kachelboden, ein seltsames, fremd wirkendes Unterwasserballett inszeniert sich, ohne dass die Badenden es mitbekommen. Matti löst sich vom Beckenrand und gleitet dicht über dem Boden durch das flimmernde All. Ein wenig erinnern ihn seine Bewegungen an die von Kosmonauten in weiten, geräuscharmen Räumen.

Allmählich wird er ruhiger und zu einem Teil der sich wandelnden Bilder. Große Strahler erhellen den tiefen Wasserraum und entlocken den bunten Fliesen architektonische Zeichen, die an Paul Klee erinnern, während die helle, nur hier und da gerötete Haut der Badenden seltsam künstlich wirkt und an Skulpturen von Jeff Koons denken lässt.

Je länger das ewige Reden ausgeblendet wird, umso stärker erscheinen die theatralischen Szenen: Ein Reigen von ungleichen Körpern, muskulös, mager, zappelnd, bewegungslos, herumflatternde Hände, Haarekstasen oder Badekappen, streng auf den Schädel gepresst. ‚Das ist‘, denkt Matti, ‚das menschliche Dasein an und für sich: Körper, Bewegung, Luftholen und Herzschlag, der elementare Zustand des Lebens in nuce.‘

Wie ein Forscher beobachtet er die tiefe Welt, gleitet eine Stunde umher und taucht wieder in den Alltag zurück. In den Ferien wird er in glasgrünen Seen der Steiermark abtauchen und später das erste Unterwasser-Restaurant Europas besuchen, das gerade in Norwegen eröffnet hat. In fünf Metern Tiefe wird er auf einer Sitzgruppe aus Eiche in den Atlantik starren und erleben, wie die dort vorbeitreibenden Fische und Krebse ihn taxierend mustern: ‚Bist Du für uns bereit und vorbereitet darauf, uns zu genießen?‘ Matti wird heimlich nicken, Unterwasser ist in seinen Augen das Gelände raren Glücks, so, wie es die Schöpfung einst einmal verheißen.