Gestern habe ich SPIEGEL ONLINE ein Interview gegeben, das bald auch im Netz zu finden sein wird. Hier schon einmal der Wortlaut:
SPIEGEL ONLINE: Herr Ortheil, Sie reisen seit Jahrzehnten regelmäßig nach Paris, und bei jedem Besuch zieht es Sie zuerst auf die ÎIe de la Cité zur Notre-Dame. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie am Montagabend die Flammen in den Himmel schießen sahen?
Hanns-Josef Ortheil: Ich konnte mich stundenlang nicht von den Fernsehbildern und der Berichterstattung lösen. Ich selbst stand zuletzt im November lange auf einem der Türme, um auf Paris zu schauen. Mein Eindruck ist: So tragisch der Brand ist, die Ereignisse lösen eine Rückbesinnung aus, die auch mich sehr bewegt.
SPIEGEL ONLINE: Worauf?
Ortheil: Auf das, was Notre-Dame eigentlich ist. In den letzten Jahren war die Kathedrale ja vor allem eine Touristenattraktion, ihre historische Bedeutung schien in den Hintergrund getreten. Dabei ist Notre-Dame der zentrale, historische Raum, in dem seit Jahrhunderten französische Geschichte geschrieben wird. Die Île de la Cité ist der Ursprungsort von Paris. Von hier aus ist die Stadt gewachsen, zunächst links, dann rechts der Seine. Für die Franzosen ist es undenkbar, Notre-Dame zu verlieren.
SPIEGEL ONLINE: Noch bevor das Feuer gelöscht war, hat Präsident Macron den Wiederaufbau versprochen. Wird die Wunde, die der Brand verursacht hat, wieder heilen?
Ortheil: Davon bin ich überzeugt. Es zeichnet sich ja auch schon eine breite Bewegung ab, die den Wiederaufbau vorantreiben will. Die Franzosen können enthusiastische und kraftvolle Optimisten sein. In den traurigen Ereignissen auf der Île de la Cité liegt eine große Chance.
SPIEGEL ONLINE: Welche?
Ortheil: Der Wiederaufbau wird mehr werden als ein Stein-auf-Stein-Setzen, er wird enorme kulturelle Energien erzeugen – ob in Theaterstücken, Musik, Literatur, Kunst oder Philosophie. Das wird zu einer Wiederbelebung der spezifisch französischen Kreativität beitragen und Notre-Dame in ihrer historischen Relevanz neu glänzen lassen.
SPIEGEL ONLINE: Warum zieht es Sie persönlich immer wieder in und auf die Kathedrale?
Ortheil: Mich fasziniert die Wucht, die gotische Architektur in einer Kirche entfaltet. Ich bin in Köln aufgewachsen und war als Kind mit meinen Eltern fast jeden Sonntag im Dom. Notre-Dame fühlt sich für mich wie ein verwandter Bau an. Diese Parallelität bewegt mich sehr. Obwohl ich zugeben muss, dass Notre-Dame nicht nur die ältere, sondern auch die schönere Kathedrale ist.
SPIEGEL ONLINE: Ihr Buch Paris, links der Seine beginnen Sie mit einem Ausblick von Notre-Dame über die Stadt. Was macht den so besonders?
Ortheil: Natürlich kann man auf Paris auch vom Eiffelturm oder dem Tour Montparnasse blicken. Doch nur auf den Türmen von Notre-Dame steht man wirklich mitten in der Stadt. Nicht zu hoch, nicht zu tief. Man ist im Freien, kann fast noch den Kaffeeduft von unten riechen. Die Häuser sind nah, unter einem teilt sich die Seine. Es gibt keinen schöneren Ort, um die Stadt zu erfassen.
SPIEGEL ONLINE: Von den vielen Touristen haben Sie sich in der Vergangenheit bei Ihren Besuchen nicht stören lassen?
Ortheil: Orte mit einer besonderen Ausstrahlung locken nun mal viele Leute an. Natürlich habe auch ich einen Widerwillen gegen die Übertouristisierung, aber ich leite daraus nicht die Konsequenz ab, selbst wegzubleiben. Mein Rezept für den Besuch beliebter Sehenswürdigkeiten ist: Ich gehe immer allein hin, lasse mir viel Zeit und nehme etwas Passendes zu lesen mit. Gerade Notre-Dame hat unendlich viel Stoff hervorgebracht: Gedichte, kleine Erzählungen, den wunderbaren Roman von Victor Hugo. Wenn es mir zu laut wird, höre ich Musik, die einen Bezug zur Umgebung hat.
SPIEGEL ONLINE: Spüren Sie den Drang, möglichst bald selbst wieder nach Paris zu fahren, um zu verstehen, was passiert ist?
Ortheil: Jetzt gerade würde ich nicht hinfahren wollen. Die Menschen vor Ort brauchen Zeit, um das Geschehene für sich zu ordnen und zu überlegen, wie es nun weitergehen wird. Da muss ich nicht daneben stehen. Ich werde wie geplant im September wieder in Paris sein.