(Heute auch als Kolumne im Kölner Stadt-Anzeiger, S.4)
Kurz nach dem Brand von Notre-Dame erlebt man eine verblüffende „Auferstehung“. Die große Kathedrale war lange Zeit ein beliebtes Objekt des Massentourismus, dessen Scharen sie nichtsahnend durchwanderten wie ein dunkles Bergwerk, in dessen Verstecken man irgendwann auf eine bucklige, zerzauste Gestalt zu treffen hoffte. In der Disney-Version von Der Glöckner von Notre-Dame war man ihr einmal im Kino begegnet, ohne zu ahnen, dass der stark sentimentale Bursche eigentlich einem Roman des Schriftstellers Victor Hugo entstammte.
Victor Hugo?! Ein großer Roman?! Aber ja, inzwischen sind Name und Buch wieder in aller Munde, und die beiden Kapitel des dritten Buches, die von der Geschichte der Kirche erzählen und die berühmte Vogelschau auf Paris präsentieren, werden beinahe wie sakrale Texte gelesen. Nicht anders verhält es sich mit der Musik. Seit dem Brand interessiert sich die Welt wieder für die zum Glück unbeschädigte große Orgel und lauscht neuen und älteren Aufnahmen ihrer legendären Organisten. Welche Kirchenmusik wurde von welchen Komponisten für die Mess-Liturgien von Notre-Dame komponiert? – auch das ist inzwischen eine Frage, für deren Beantwortung lauter frisch entstandene Webseiten Kataloge mit vielen Hinweisen bereithalten.
Ähnlich verlaufen die Studien der Kunstfreunde, für die The Public Domain Review gerade eine ausführliche Bilderstrecke mit Gemälden oder Fotografien angelegt hat, die im Zeitraum von 1460 bis 1921 Notre-Dame abbildeten. David, Matisse, Atget oder Signac – sie alle haben die Kirche porträtiert und uns eine Vorstellung von ihren sich wandelnden Physiognomien vermittelt. Ganz zu schweigen von den Architekten: schon wenige Tage nach dem Brand waren die Diskussionen über den „Wiederaufbau“ in vollem Gang, und sofort war auch klar, dass er ein europäisches Projekt werden wird, mit Spezialisten und ausgesuchten Handwerkern aus vielen Ländern.
Diese „Revitalisierung“ von Notre-Dame ist erstaunlich. Plötzlich ist sie ein Thema, das von Vertretern aller Künste wie ein großes Zukunftsprojekt behandelt wird, in dessen Verlauf wir unsere Fantasien und Vorstellungen von Vergangenheit neu befragen. Momentan schlägt die Stunde der Fachleute und Enthusiasten, die sich mit Leidenschaft in Details vertiefen und von ihnen so spannend zu berichten wissen, wie es keine Disney-Animation je vermocht hat. Ich will hoffen, dass das noch lange so bleibt.