Gestern, am 1. Mai

Ist es am 1. Mai sonnig, sind an diesem Tag so viele Menschen auf dem Höhenweg unterwegs wie sonst nie. Sie ziehen in Kolonnen an den alten Mauern und Zäunen entlang, bleiben laufend stehen, schauen herunter auf die Stadt und sagen: „Schau Dir das neue Parkhaus an!“ – „Wo?“ – „Dort oben, hinter der Siedlung!“ – „Das ist kein Parkhaus, sondern der Megatower des neuen Einkaufszentrums.“

Ich halte mich, so gut es geht, unten im Gartenhaus versteckt, irgendwann muss ich aber doch einmal die lange Treppe hinauf zur Höhe, um zum Beispiel etwas aus dem Auto holen. „Da ist jemand …“, höre ich die Stimmen von oben. – „Wo?“ – „Da unten, an der Treppe …“ – „Da ist niemand, das sieht nur so aus.“

Ich gehe nicht weiter die Treppe hinauf, sondern schlage mich zur Seite, in die Büsche, wo es einen kleinen Unterstand gibt. „Da ist doch jemand …“ – „Wo?“ – „Dort unten am Hang!“ – „Wahrscheinlich ein Hund oder eine Katze oder der Gärtner.“ – „Welcher Gärtner?“ – „Keine Ahnung, sicher sind an diesen Hängen auch Gärtner unterwegs.“ – „Aber doch nicht am 1. Mai!“ – „Und wieso nicht?“

Ich verweile ein wenig im Unterstand, bis es oben auf der Höhe für einen Moment ruhiger wird. Dann schleiche ich zurück zur Treppe und haste sie mit raschen Schritten hinauf. „Da ist er!“ – „Wer?“ – „Na, der Gärtner oder sein Gehilfe oder der Paketbote.“ – „Paketboten am 1. Mai?“ – „Na klar, die armen Teufel müssen auch an Feiertagen arbeiten.“ – „Aber nicht am 1. Mai.“ – „Hast Du eine Ahnung!“ – „Fragen wir ihn doch einfach.“

Ich komme oben auf der Höhe an. „Hallo! Wer sind Sie? Wohnen Sie hier? Sind Sie der Paketbote? Oder vielleicht der Gärtner?“ – „Hallo! Nichts von alledem!“ – „Aber wer sind Sie denn?“ – „Warum wollen Sie das wissen?“ – „Einfach so, interessehalber.“ – „Also gut, ich bin Hydrologe.“ – „Was sind Sie?“ – „Ich messe die Feuchtigkeitsfrequenzen auf dieser Höhe an überlaufenen Tagen wie diesen.“ – „Aha. Und wie misst man so etwas?“ – „Durch Bohrungen im Erdreich und gezielte Pflanzenproben.“ – „Interessant!“ – „Wie man´s nimmt …“

Ich öffne mein Auto und entnehme ihm zwei Flaschen Mineralwasser, die dort noch herumliegen. „Jetzt brauchen Sie wohl selbst mal einen Schluck, oder?“ – „Sieht so aus, ist aber kein Mineralwasser.“ – „Sondern?“ – „Nitratstarkes Ephtamalin, aufgelöst!“ – „Und was macht man damit?“ – „Man reibt die Pflanzen damit ein, dann speichern sie das Wasser länger.“ – „Sehr interessant.“ – „Ja, finde ich auch …“

Als ich die lange Treppe wieder herunterschleiche, klingen mir die Stimmen der Spaziergängerchöre nach: „Er ist also nicht der Gärtner!“ – „Jetzt ist er wieder verschwunden.“ – „Wo?“ – „Unten, in dem kleinen Haus.“ – „Dort ist gar kein Haus.“ – „Kein Haus?“ – „Nein, nur eine winzige Forschungsstation, mit Sender, Antenne und so.“ – „Kann ich nicht erkennen.“ – „Ist aber so. Hydrologische Stationen befinden sich immer im Tal.“ – „Aha. Ja, wenn das so ist.“