Zu Besuch bei Joseph Haydn

(Eröffnung einer Erzählung …, 1. Kapitel)

Am frühen Morgen machte ich mich auf den Weg zu Haydns Wohnhaus im Wiener Stadtteil Gumpendorf. Da ich wusste, dass er gegen halb Sieben aufstand, sich sogleich eigenhändig rasierte und vollständig anzog, um Acht frühstückte und sich anschließend eine Stunde an das Klavier setzte, erschien ich gegen neun Uhr. Sein Diener öffnete mir die Tür und flüsterte mir zu, dass Haydn an diesem sonnigen Morgen ausgesprochen gut gelaunt und einem Spaziergang durch die nahen Gassen sicher nicht abgeneigt sei, ich müsse ihn nur „sanft drängen“, wozu ich ja durchaus imstande sei.

Danach betrat ich das helle Zimmer, in dem Haydn sich aufhielt, er saß in seinem Lehnstuhl und schien auf mich zu warten. Wie fast immer trug er einen Rock aus kaffeebraunem Tuch mit gestickten Manschetten, weißer Seidenweste, schwarzen Seidenhosen und feinsten weißen Strümpfen in flachen Schnallenschuhen. Ich grüßte ihn mit aller Herzlichkeit und griff nach dem Hut, dem Spazierstock und den Handschuhen, die auf dem Tisch zu seiner Seite lagen. „Die Sonne lacht uns durchs Fenster zu und fordert uns auf, einige Schritte draußen im Freien zu tun“, rief ich und war Haydn beim Aufstehen behilflich.

Er strich seinen Rock glatt und fuhr sich über die Perücke. „Meine Perücke!“, murmelte er, „ich trage sie seit frühster Jugend nur zwei Finger über den Augenbrauen.“ – „Da sollten wir für Veränderung sorgen“, antwortete ich, „ein Karl Lagerfeld-Look mit dicht geflochtenem Zopf würde Ihnen ausgezeichnet stehen. Ein Haarstudio befindet sich ganz in der Nähe.“

Haydn schwieg, aber ich bemerkte, dass er durchaus nicht abgeneigt schien, einiges an seinem Äußeren zu ändern. Wir erreichten die Schmalzhofgasse und damit den bezaubernden Konfektladen von Michael Diewald, wo wir einige süße Schokoladenpreziosen, gefüllt mit Waldmeister und Zitronenmelisse sowie Flieder und Erdbeere, erstanden. Wir kosteten sie und bogen auf die Otto-Bauer-Gasse zum Café Jelinek ein, um dort einen Verlängerten Braunen und einen Einspänner zu uns zu nehmen.

Danach suchten wir in der Gumpendorfer Straße die Österreichische Mediathek auf, wo wir uns auf Haydns besonderen Wunsch hin Ausschnitte einer Aufnahme seiner Oper Die vereitelte Untreue im Schloss Esterházy in Eisenstadt aus dem Jahr 1980 anhörten, um, die Stumpergasse entlangschlendernd, gegen Mittag das Restaurant Gschamster Diener aufzusuchen, wo wir Gebackene Schweinsleber mit Erdäpfelsalat und Ötztaler Gröstl bestellten und dazu je ein Glas naturbelassenen, säurebetonten Messwein des Jahrgangs 2015.

Wir nahmen den ersten und auch einen zweiten Schluck, und ich erkannte zu meiner großen Freude Haydns berüchtigtes freundliches Lächeln. Oh ja, ich wusste es nur zu gut zu deuten: Es war nicht anders zu verstehen denn als „Vorbote einer Erzählung“, die ich im Kopf behalten und später notieren würde. Ein Grüner Veltliner des Jahrgangs 2016 würde den Meister noch mehr in Fahrt bringen, ganz zu schweigen von einigen Glaserln Schlumberger, mit dem ich seinen Dessertappetit am frühen Nachmittag bis zum späten Abend noch vehementer anzuregen dachte …