Der letzte Tag

(Gestern auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“)

Herbert schaut auf die Uhr, noch eine halbe Stunde. Die Schubladen des Schreibtischs sind längst geleert, und auch auf den Regalen steht kein einziger Gegenstand mehr. Am nächsten Tag wird man Schreibtisch und Regale entfernen und die Wände frisch streichen, nichts wird noch an ihn erinnern. Seine langjährige Mitarbeiterin ist heute krank, wahrscheinlich wollte sie vermeiden, seinen Abschied mit erleben zu müssen. Krüger, der Abteilungsleiter, ist auf Dienstreise und hat ihm am Morgen per Handy „ein entspanntes Leben als zufriedener Rentner“ gewünscht. Herbert könnte ein paar Schritte durch die Firma machen, was aber merkwürdig aussehen würde, melancholisch und vielleicht sogar etwas pathetisch.

Im Grunde hat er auch nichts mehr zu sagen, in all den Jahrzehnten, in denen er in diesen Räumen gearbeitet hat, ist seine Lust, sich mit den anderen Mitarbeitern zu unterhalten, immer geringer geworden. Er spürte, dass sie ihm seinen baldigen Abgang ansahen und ihn längst nicht mehr in ihre Initiativen einbezogen. Der neue Mann, der sich schon vor Wochen vorgestellt hatte und in wenigen Tagen in seinem Büro sitzen würde, ist stattdessen bereits von allen Seiten kontaktiert worden, es hieß, dass man mit ihm „große Hoffnungen für die Zukunft“ verband, als hätte man genau diese Hoffnungen im Blick auf ihn, Herbert, längst begraben.

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sich in seinem Büro wohlgefühlt und sich morgens auf das Betreten gefreut hatte. Zuletzt aber hatte ihn dort ein richtiges Unwohlsein befallen. Das also war sein Leben gewesen, diese ewigen kleinen Erledigungen Tag für Tag, Korrekturen, Verschiebebahnhöfe. Emsig und gründlich war er gewesen, genau deshalb aber hatten ihn viele belächelt.

Er steht auf, nimmt den Mantel aus dem Schrank und greift nach der Aktentasche, dann öffnet er die Tür, zieht sie leise hinter sich zu und geht den Gang noch einmal entlang. Hätte man ihm nicht zumindest ein paar Blumen … – oder eine Flasche Wein … – oder …? Nicht mehr daran denken! Fast geräuschlos erreicht er das Foyer. „Machen Sie’s gut“, ruft ihm die nette Frau in der Portiersloge nach. Er lächelt kurz: „Danke, ich werde mir Mühe geben!“

Endlich steht er draußen auf der Straße, vor dem mächtigen Gebäude, das er nie mehr betreten wird. Er atmet durch und macht einige Schritte. „Nicht zu fassen“, flüstert er zweimal. Er dreht sich nicht mehr um, sondern macht sich sofort auf den Weg nach Hause. Als er um die Ecke biegt, beginnt er plötzlich zu pfeifen. Dann hört man ihn lachen, unvermutet und beinahe kindisch. Das Theater ist endgültig vorbei, er wird sich nach neuen, passenderen Rollen umschauen.