Die Habermas-Zeiten

Vor zwei Tagen ist Jürgen Habermas neunzig Jahre alt geworden. Seither habe ich viele Artikel über ihn und sein Wirken gelesen, ja, ich tauchte regelrecht ein in die zahlreichen Erinnerungen seiner Freunde und Weggefährten, die auch von seinen frühen Lebensstadien berichteten. Warum kam ich nicht davon los? Weil ich selbst ins Erinnern an jene Zeiten verfiel, als ich die Bücher von Jürgen Habermas eins nach dem andern gelesen habe.

Anfang der Siebziger Jahre hatte ich irgendwann ernsthafter zu studieren begonnen, mehrere Fächer auf einmal. Mein zentrales Interesse war aber ein philosophisches, denn ich wollte, naiv gesagt, studieren, wie die großen Philosophen „die Fragen des Lebens“ gestellt und beantwortet hatten.

Geprägt war dieses Interesse durch die langjährige, noch in der Schulzeit begonnene Lektüre der Schriften Walter Benjamins (1892-1940) und Theodor W. Adornos (1903-1969). Walter Benjamin war der „mystische“ und geheimnisvolle philosophierende Literat, Theodor W. Adorno der „kritische“ und scharfzüngige philosophierende Musiker. Aus Benjamins und Adornos Schriften bestand mein „Verständnis von Gegenwart“, sie hatten die Themen, Ideen und Leitfragen formuliert, mit deren Hilfe ich mich an das Studium der großen Vergangenheiten seit der Antike machte.

In diesen frühen Jahren, die ich in Rom, Mainz, Göttingen und Paris verbrachte, gaben Benjamin und Adorno mir zugleich die Rollen vor, die ich im Blick auf meine eigene Zukunft für erstrebenswert hielt. Je länger und ernsthafter ich studierte, umso mehr dachte ich daran, die Universität nicht mehr zu verlassen. Ich wollte promovieren und habilitieren, irgendwann würde ich es vielleicht sogar schaffen, eine Professur zu erhalten und auf diese Weise mein ganzes Leben den großen Fragen von Philosophie, Literatur und Musik zu widmen.

Strukturwandel der Öffentlichkeit war das erste Buch von Jürgen Habermas, das ich damals las. 1962 als Habilitationsschrift erschienen, untersuchte es anhand der Sezierung des Begriffs der „Öffentlichkeit“ Strukturen jener bürgerlichen Gesellschaften, die sich, verstärkt seit dem achtzehnten Jahrhundert, von den Schichten „repräsentativer Öffentlichkeit“ (wie Adel, Kirche, traditionelle Hierarchien) abzusetzen begannen.

Die Frage, die ich mir damals nach der Lektüre dieses Buches stellte, war eine nach dem Anteil, den die „schöne Literatur“ an diesen Bewusstwerdungsprozessen gehabt hatte. Warum war Habermas darauf nicht näher eingegangen? Warum zum Beispiel tauchte der Roman als literarische Gattung dieser bürgerlichen Moderne nicht auf, war er doch in der Spätzeit des achtzehnten Jahrhunderts zur wichtigsten Gattung für deutsche Schriftsteller (wie etwa Goethe, Jean Paul, Friedrich Schlegel, Friedrich Hölderlin, Novalis, Bonaventura, Ludwig Tieck) überhaupt geworden?

Genau diesem Thema widmete ich dann meine eigene Dissertation, die in den Jahren von 1974 bis 1976 entstand. Sie untersuchte Spielformen des deutschen Romans angesichts der Revolution in Frankreich, und sie deutete „den Roman“ als zentrale literarische Antwort auf deren Ereignisse (Der poetische Widerstand im Roman. Athenäum 1980).

Seltsam. Mitte der siebziger Jahre dachte ich – nach dem Scheitern meiner bis dahin lebenslangen Idee, Konzertpianist zu werden – an ein Hochschulleben im Kreis von Schülerinnen und Schülern. Nebenbei schrieb ich Artikel, Kritiken und Rezensionen für Zeitungen und Zeitschriften und ging jede Woche mehrmals ins Kino, um die neusten Filme zu besprechen.

Es gibt nur sehr wenige Fotos aus dieser Zeit. Damals galt das Fotografieren unter uns Lesern als überflüssig. Wir hatten unsere Bilder im Kopf, und wir fanden es peinlich, unser Aussehen fotografisch zu dokumentieren. Wozu sollte das gut sein? Die großen Fragen stellten (noch nicht) die Bilder, sondern die Texte, und der Philosoph Habermas war ein Vorbild für das präzise Fragen, wie man mit den alten Welten umgehen konnte … (Fortsetzung folgt)