(Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)
Alle paar Tage gehe ich in den Wald, der sich direkt an mein Grundstück anschließt. Meist bin ich am frühen Abend etwa eine Stunde unterwegs, immer einen anderen Weg oder Pfad entlang. Lange Zeit hatten diese Waldgänge etwas Harmloses und waren wohltuend ideologiefrei. Mein Wald hatte den Romantikboom früherer Jahrzehnte überstanden, er war weder ein Heiligtum noch das „marschierende deutsche Heer“ von lauter strammen Baumstangen, als den ihn Elias Canetti einmal gedeutet hatte. Selbst vom „Waldsterben“ war nicht mehr laufend die Rede, so dass ich glauben konnte, der Wald sei nicht länger ein überbeanspruchtes Zeichen für alles und nichts.
Seit einiger Zeit hat sich das aber wieder geändert. Die ersten Fremdkörper, mit denen ich zu tun hatte, waren die Downhill-Fahrer, die unvermutet seitwärts Waldschneisen herabbretterten, auf den breiteren Wegen bremsten und sich wie aufheulende, kleine Drachen den nächsten Abhang herunterstürzten. Solche Aktionen trugen dazu bei, mich dem Wald zu entfremden, sie behandelten das Rad wie ein Motorrad, und sie machten aus Wäldern Streckenpisten für Slalomfahrer.
Dann begegnete ich kleineren Gruppen, die sich bei jedem Wetter dem „Waldbaden“ widmeten. Auffallend langsam zogen sie von Baum zu Baum, umkreisten Baumstümpfe, blieben hier und da minutenlang stehen, zeichneten Insekten und Schmetterlinge und stimmten oft sogar eigenartige Lieder an. Manchmal wurde ich eingeladen, sie zu begleiten, mein Gehen erschien ihnen zu anspruchslos und simpel, und eine Gruppenführerin schenkte mir einen Prospekt, der von der Notwendigkeit handelte, Wälder „philosophisch lieben zu lernen“.
Die weitaus größte Zahl der Waldbesucher geht aber nicht mehr, sondern bewegt sich temporeich. Die meisten laufen schweißtreibend und messen ihren Energieverbrauch an jeder Waldkreuzung, sie tragen Laufkleidung, haben Getränke dabei und verzehren bevorzugt Bananen. Manche begegnen mir bei meinen Spaziergängen mehrmals, weil sie zehnmal so lange Strecken zurücklegen wie ich. Sie beachten mich aber nicht, sondern bleiben für sich, über Kopfhörer genießen sie lautstark die Musik des waldfernen Lebens.
Noch halte ich durch und gehe einfach nur spazieren. Ich philosophiere nicht, und ich höre weder Musik noch maskiere ich mich „waldaffin“. Ich will einfach nur „unterwegs“ sein, und am liebsten (ich gebe es zu) wäre ich wie in den alten, stilleren Tagen: allein.