Lesen im Freien

(Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)

„Aura“ ist ein sehr schönes Wort. Es kommt, wie der „Duden“ meldet, aus dem Griechischen und dem Lateinischen und meint einen Lufthauch, ein Wehen, einen Schimmer oder auch einen Duft oder Dunst. Spüren wir eine solche Aura, fühlen wir uns von etwas angeweht, erhellt oder sogar ergriffen, ohne dass wir es zunächst klar benennen oder fixieren könnten.

Vor kurzem schenkte mir ein Freund die Neuauflage eines Bandes mit Schwarz-weiß-Fotografien des berühmten ungarischen Fotografen André Kertész (1894-1985). Es waren Fotografien lesender Menschen, weswegen Kertész den Band On reading genannt hatte. Die Fotos zeigten nämlich keine Porträts, sondern umkreisten, wie der Titel exakt ankündigte, vor allem den Vorgang des Lesens.

Die meisten Lesenden befanden sich dabei im Freien, sie hatten sich einen bestimmten Ort (oder ein „Plätzchen“) gesucht und es meist auch rasch gefunden. Ein Stuhl mitten auf einem Bürgersteig, eine Liegewiese, eine Kaimauer an einem Fluss, stark belaubten Erdboden mitten in einem Wald, eine Treppe, eine Parkbank – das waren typische Räume für das Verweilen und die angeregte Lektüre.

All diese Menschen, fiel mir auf, schienen eine bestimmte Aura des Lesens zu spüren. Sie waren in einen Text vertieft und erlebten seine auratische Wirkung. Dadurch strahlte er etwas aus, erhellte die Umgebung und ging mit ihr eine atmosphärisch dichte Verbindung ein. Gelang das, hatte die Lektüre in der Erinnerung später etwas von einem Traum und spielte auf zwei Ebenen: denen des Textes und denen des Raums, in dem das Lesen stattfand.

Jetzt, im Sommer, ist die große Zeit des Lesens im Freien, und wer in unseren Städten unterwegs ist, sieht sie zum Glück überall: Die Auratiker, meist allein, mit einem Buch unterwegs, dem sie „alle Zeit der Welt“ schenken, um irgendwann wieder aus ihm emporzutauchen und aufzuwachen. Ein Duft, ein Dunst? Ja, da war doch etwas und ist geblieben, bis man wieder und wieder danach verlangt und eine bestimmte Aura spürt und gar nicht genug davon bekommen kann.