Neulich war ich bei Harriet und Bruno zu einem Venedig-Abend eingeladen. Zunächst wurden Cicchetti serviert, wie es sie in der Lagunenstadt als Begleitung zu einem Glas Wein in Form von kleinen Appetithappen gibt. Danach die unerwartete Überraschung: Die beiden hatten für ihre Gäste lauter Ausschnitte aus Donna Leon-Filmen zusammengeschnitten.
Dass sie alle Filme der Reihe kannten, hatte ich nicht erwartet. Dass sie alle mindestens dreimal gesehen hatten, noch weniger. Dass sie aber nach Venedig vor allem deshalb fahren, um sich an den Schauplätzen der Filme aufzuhalten, am wenigsten.
Während wir uns die Ausschnitte anschauten, kommentierten unsere Gastgeber laufend die Szenen: „Erkennt Ihr es?! Das ist die kleine Brücke gegenüber von Santi Giovanni e Paolo! Und jetzt biegt Brunetti nach rechts ab, auf die Konditorei Rosa Salva zu! Wir haben genau dieselben Biscotti gegessen, die er immer isst. Vice Questore Patta hat dort einmal eine ganze Flasche Grappa bestellt, erinnert Ihr Euch?“
Nach einiger Zeit dämmerte mir, dass Harriet und Bruno die Filmhandlung komplett übersahen. Welche Ganoven da mit welchen Mitteln ihr böses Handwerk trieben, ignorierten sie zugunsten eines anderen Studiums: Welche Calli und Campi durchquerte Brunetti mit seinem Gehilfen? In welchem Restaurant aß er mit seiner Ehefrau in einer Arbeitspause? Und welche Blumen hatte die Blumenliebhaberin Signorina Elettra diesmal auf ihrem Schreibtisch stehen?
Ich sprach meine Gastgeber auf ihr merkwürdiges Hobby an, und sie bestätigten, dass sie die Filmhandlung überhaupt nicht beschäftige. „Wir empfinden“, sagten sie, „eine tiefe Sympathie zum Commissario, seiner Frau, seinem Gehilfen Sergente Vianello, Signorina Elettra, ja selbst noch zu Vice Questore Patta, den Michael Degen so urkomisch spielt. Die schönsten Momente in diesen Filmen sind jedoch die, in denen Brunettis Familie auf einer Dachterrasse oberhalb des Canal Grande sitzt und zu Abend isst. Diese friedliche Ruhe! Und all diese gelassenen Menschen, mit Humor und Ironie gesegnet! Was für ein schönes Familienleben! Gegenüber liegt übrigens die Dachterrasse des Deutschen Studienzentrums. Hast Du dort nicht auch einmal übernachtet? Wir schauen jedes Mal, ob Du zufällig im Bild bist.“
Nach diesem erstaunlichen Abend habe ich mir allein einen ganzen Donna Leon-Film angeschaut, den Sehmethoden meiner Freunde streng folgend. Seltsam, ich bekam nichts zusammen. Diese oder jene Gasse erkannte ich wieder, aber der Campo, der sich nach ihrem Durchlaufen auftat, war ein ganz anderer als in der Realität.
Das Konzept der Filmemacher besteht darin, dem Zuschauer ein Puzzle von Venedigbildern zu zeigen, die in Wahrheit gar nicht zusammengehören. Schafft er es, die Puzzlestücke in seinem Kopf wieder so zu ordnen, dass sie dem Stadtbild von Venedig entsprechen, hat er eine wahre Freude an Filmen der Donna Leon-Serie. Und genau das ist, so verstehe ich jetzt, die einzig richtige Art, sie wiederholt zu genießen. Ohne jede Aufmerksamkeit für die Handlung, einzig als nicht enden wollendes Venedig-Revival.