Auf der Terrasse unter dem großen Sonnensegel besucht mich an diesen heißen Tagen oft eine Eidechse. Sie ist urplötzlich da und besetzt immer denselben Ort: Einen Mauervorsprung, auf dem die Sonne besonders stechend verweilt. Wie erstarrt krallt sie sich in das Licht und regt sich nicht. Wenn ich sie länger betrachte, werde ich immer ruhiger. Schließlich sind wir einander sehr nahe in unserem Stieren und Schauen und in der Lust, uns die Wärme ganz einzuverleiben.
Mir gefallen ihr langer, spitz zulaufender Schwanz, ihr grünbraunes Schuppenkorsett und ihre wachsam erscheinenden Augen. Sie ist eine Einzelgängerin, da könnte ich wetten. So behält sie ihr Leben für sich, samt der Beute und der raren Entdeckungen in den Zonen des Lichts. Sonnengesänge könnte sie dichten, während ihre Beobachter sie in ein Haiku verwandeln. Bereits von Natur aus ist sie nämlich eine Haiku-Erscheinung, eine Kreatur abgemessener Silben und dreizeiliger Takte.
„Ich wüsste gern mehr über Dich“, dachte ich gestern, als ich den Nachmittag mit ihr erlebte. Und als hätte sie meine geheimsten Gedanken erraten, brachte am frühen Abend jemand ein Buch vorbei. Darin hatte Joachim Sartorius in einem Naturkunden-Band von Matthes & Seitz Eidechsen der verschiedensten Arten porträtiert. Ich schlug den Band auf und las den ersten Satz: „Meine Kindheit in Tunesien war eine Eidechsenkindheit …“
Ich las den schönen Satz mehrmals und langsam, setzte ebenfalls an und fuhr fort: „Meine Kindheit im Westerwald war eine Eidechsenkindheit. Ich machte ihre Bekanntschaft an den Sandhaufen rings um die große Baugrube im Wald, in der das Haus meiner Eltern entstand. Wie entfesselte Biker stürzten sie sich von den sandigen Höhen in die Tiefe und verschwanden plötzlich im niedrigeren Wurzelgelände, als eilten sie auf dunklen Wegen zu geheimen Treffen …“