Gestern wurde der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk in Stockholm der Literaturnobelpreis für das Jahr 2018 verliehen. Ich hatte bereits viel von ihr gehört, aber noch kein einziges ihrer Bücher gelesen. Aus Anlass der Preisverleihung widmete ich ihr daher eine Lesezeit von mehreren Tagen und vertiefte mich in Unrast.
Ungewohnt ist, dass dieses umfangreiche Buch (es hat mehr als 450 Seiten) aus unzähligen, zum Teil auch kurzen Textelementen besteht, die keine durchlaufende Geschichte ergeben, wohl aber das Szenario eines „Themas“. Dieses Thema ist die nomadische Existenz, das dauernd Unterwegssein, die Begegnung mit vielen fremden Menschen, die Reflexionen, die sich daran knüpfen.
Die zentralen Räume sind Flughäfen – noch nie habe ich deren „Poesie“ so hautnah erlebt, ich habe stattdessen immer weggeschaut, wenn ich mich in Flughäfen aufhielt. Eigentlich wollte ich nichts wie fort, und vor dem Einstieg in ein Flugzeug graute mir. Im Fall von Olga Tokarczuk ist das ganz anders. Sie genießt die Augenblicke des Wartens, das Boarding, das Hineinschlüpfen in die Maschine, die Gespräche mit ihren Sitznachbarn, die Landung – und den erneuten Aufbruch. Fast hatte es den Anschein, als könnte sie nur in Bewegung, unaufhörlich reisend, existieren – und als bereitete ihr genau das ein großes Vergnügen, weil es ihr immer neue Welt- und Erzählelemente zuspült.
Während meiner Lektüre geriet ich selbst in Bewegung, lief durch die Zimmer, schaute zum Fenster hinaus und dachte: Hast Du etwas falsch gemacht? Warum wäre es Dir unmöglich, so zu leben? Und ist es nicht ein großer Fehler, sich immerzu an jenen Orten aufzuhalten, die Dir seit der Kindheit vertraut sind? Als wärst Du noch immer das Kind, das immerzu nach Hause kommt, zigmal am Tag?
Für mich sind bereits kurze Reisen nach Irgendwohin, zu einer Lesung, zu einem Vortrag oder einfach nur zu einer Abwechslung, anstrengend und oft eine Tortur. Kaum sitze ich in einem Zug, denke ich schon: Warum bist Du nicht zu Hause geblieben, verdammt? Ganz zu schweigen vom Autofahren, das ich richtiggehend hasse.
Dennoch: Ich habe Olga Tokarczuks Unrast sehr bewundert. Ich spürte ihre Lust und Freude an der Weite der Welt, ihre starke Neugierde, ihr Vibrieren angesichts von Menschen und Dingen, die ihr Neues mitteilten. So bist Du leider nicht, dachte ich nach der Lektüre, Du bist ein Spaziergänger im Umkreis Deiner Zimmer, Du bist ein Gartenblumenstaudenbestauner, Du bist ein Mensch aus der Ära vor den Zeiten der großen Mobilität. Ein Bauer, ein Gastwirt, ein Mensch der Dörfer und Wiesen drumherum.