Wie ich flaniere

Eine Leserin fragt: Wie, Herr Ortheil, „flanieren“ Sie?

Das Flanieren ist im neunzehnten Jahrhundert vor allem in europäischen Großstädten wie Paris, London oder Rom entstanden. Dabei entziehen sich Spaziergängerinnen und Spaziergänger bewusst und gezielt der großstädtischen Hektik, verlangsamen ihren Gang, schlendern durch Straßen und Gassen, machen häufig Halt, studieren die Auslagen der Geschäfte und entdecken Bilder und Szenen des Alltags, die etwas oft Einmaliges und Kurioses haben. Die literarischen Dokumente für diese Art des Flanierens sind häufig Gedichte, aber auch die Kurzprosa ist nicht selten im Spiel, indem in knapper, konzentrierter Form visuell besonders eindrückliche Momente skizziert werden.

Was nun mich selbst betrifft, so ergibt sich mein „Flanieren“ aus den Besonderheiten des städtischen Raums, in dem ich mich jeweils aufhalte. In Paris zum Beispiel bin ich fast ausschließlich im alten Zentrum links der Seine „flaniert“ (das kann man in Paris, links der Seine nachlesen). Ich bin in vielen Bars und Geschäften eingekehrt und habe versucht, die kulturelle Topographie des Pariser Zentrums zu erkunden und zu verstehen.

In Rom (Rom. Eine Ekstase) habe ich zentrale Räume der alten Innenstadt (der Stadt zu Zeiten Goethes) durchstreift und auf ihre Erlebnisfaktoren hin überprüft. Und in Venedig wiederum (Venedig. Eine Verführung) habe ich versucht, die ganz besonderen Atmosphären einer Spaziergängerstadt an ausgewählten Schauplätzen einzufangen.

Hier in Deutschland „flaniere“ ich (wiederholt und regelmäßig) vor allem in den beiden Großstädten, in denen ich lebe: In Stuttgart und in Köln. Meist beginne ich damit am Nachmittag von einem größeren Platz aus und gehe eine von mir vorher ausgewählte Straße entlang. Die Straße darf nicht zu stark von Autos befahren sein, sie sollte viele Läden und Geschäfte und (im günstigsten) Fall eine erkennbare „Geschichte“ haben. Ich konzentriere mich auf die Umgebung, fotografiere viel (mit dem Smartphone), kehre hier und da (zu einem kleinen Kaffee, einer Süßspeise etc.) ein, verweile aber nirgends lange.

Wichtig ist das Gespräch mit den Ladeninhaberinnen und Ladeninhabern, den Kellnerinnen und Kellnern, den anderen Gästen und Kunden. Über den Inhalt dieser Gespräche mache ich mir häufig Notizen oder ich sammle Gesprächsfetzen mit einem Diktiergerät. Alles kommt ins Smartphone und wird mit Datum und Uhrzeit gespeichert: „Stuttgart, Tübinger Straße, 15.35 Uhr-18 Uhr“ – das zum Beispiel wären etwa fünfhundert Meter „Flanieren“, wofür ich fast drei Stunden brauche.

Hinterher bin ich leer, erschöpft und (fast immer) sehr glücklich. Ich beende das „Flanieren“ meist mit einem Glas Wein (während des Gangs trinke ich prinzipiell keinen Alkohol: um „nüchtern“ und „aufmerksam“ zu bleiben und nicht in blinde Euphorie zu verfallen – passiert mir häufig: Euphorie „aus heiterem Himmel“).

Ich gehe immer allein (Begleitung würde mich zu sehr ablenken). Aber ich lade Tage später häufig Freundinnen und Freunde ein, denen ich dann zeige, was ich so alles gesehen und entdeckt habe. Oft ist die Reaktion: „Das wäre mir nie aufgefallen…“ oder „Wieso sehe ich sowas nicht?“ oder „Du solltest darüber schreiben…“